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Kapitalismuskritik "Rettet die Würde der Demokratie"

Auf den Straßen protestieren Tausende gegen die Macht der Banken, die Systemkritik erreicht die konservativen Feuilletons. Tobt ein Machtkampf zwischen Märkten und Politik? Die Kritik am Kapitalismus wird lauter.

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Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Quelle: ap

In New York, Berlin und Frankfurt demonstrieren seit Wochen Tausende gegen die Macht der Banken. Der Anführer der Proteste wird in Talkshows eingeladen, selbst liberal-konservative Politiker fordern lautstark die Bändigung der Finanzmärkte. Dass es soweit kommen würde, war noch vor fünf Jahren undenkbar: Damals lieferten sich regierende Sozialdemokraten überall in Europa einen Wettlauf, wer die Regulierungshemmnisse für die Finanzmärkte am schnellsten einebnet.

Nach Finanzkrise und Euro-Schuldenkrise hat nun eine erneute Bewusstseinsänderung stattgefunden. Je heftiger die Exzesse an den Börsen werden, desto grundsätzlicher wird auch die Kritik am System: Die Proteste gegen die Banken geben der Kritik am Kapitalismus neuen Schwung, linke Gesellschaftskritik ist wieder salonfähig geworden - bis weit in bürgerliche Kreise.

Alles begann im Juli, als der erzkonservative britische Publizist Charles Moore sich im Daily Telegraph selbstkritisch eingestand: „Ich beginne zu glauben, dass die Linken doch recht hatten“. Die Reichen beherrschten ein globales System, das es ihnen erlaubt Kapital zu akkumulieren und für Arbeit den geringsten Preis wie möglich zu zahlen, meint Moore. Die Freiheit, die es schafft, gelte nur für sie. Die Masse müsse nur immer härter arbeiten, unter immer unsichereren Bedingungen, um wenige zu bereichern. Man meint, dies seien Sätze wie aus einem Hauptseminar zum Marxismus, aber sie entstammen der Feder des offiziellen Biographen der eisernen britischen Lady Margaret Thatcher, der seit über 30 Jahren in Großbritannien als Kolumnist arbeitet.

Der Grund für Moore's Sinneswandel liegt in der Perversion der freien Marktwirtschaft durch die Finanzindustrie: „Globalisierung sollte ursprünglich nichts anderes bedeuten als weltweiter freier Handel. Jetzt heißt es, dass Banken die Gewinne internationalen Erfolgs an sich reißen und die Verluste auf jeden Steuerzahler in jeder Nation verteilen. Die Banken kommen nur noch ,nach Hause‘, wenn sie kein Geld mehr haben. Dann geben unsere Regierungen ihnen neues“, resümierte Moore nur eine Woche später.

Auch in Deutschland haben konservative Publizisten den Gedanken längst aufgenommen. Der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, sieht „in einem Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik“. Schlimmer noch: Der Finanzmarktkapitalismus bedroht laut Schirrmacher die Demokratie. Ein Machtkampf zwischen Politik und Märkten spiele sich ab, der das gesellschaftliche Zusammenleben bedroht. Durch die Exzesse der Finanzmärkte gerät der Kapitalismus in eine Sinnkrise, glaubt Schirrmacher.

Der letzte Höhepunkt dieser Sinnkrise ist für den FAZ-Herausgeber das überraschend verkündete - und dann wieder abgeblasene - Referendum in Griechenland: „Demokratie ist Ramsch“: „Wer das Volk fragt, wird zur Bedrohung Europas. Das ist die Botschaft der Märkte. Wir erleben den Kurssturz des Republikanischen.“ Es werde immer klarer, dass das, was Europa im Augenblick erlebt, keine Episode sei, sondern ein Machtkampf zwischen dem Primat des Ökonomischen und dem Primat des Politischen. „Sieht man denn nicht, dass wir jetzt Ratingagenturen, Analysten oder irgendwelchen Bankenverbänden die Bewertung demokratischer Prozesse überlassen?“, fragt Schirrmacher.

Auch der Philosoph und Publizist Jürgen Habermas springt Schirrmacher bei. „Erst die Peripetie, Papandreous Kehrtwende, enthüllt den zynischen Sinn dieses griechischen Dramas – weniger Demokratie ist besser für die Märkte.“ Habermas zieht deshalb aus der Sinnkrise bereits Konsequenzen: „Rettet die Würde der Demokratie.“

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