„Wir haben zu lange geschwiegen, aber das ist jetzt vorbei“, sagt Rafael García Merino und schwenkt seine spanische Flagge. Er ist einer von Hunderttausenden Demonstranten, die sich an diesem Sonntag auf Barcelonas Straßen versammelt haben, um für die Einheit Spaniens zu demonstrieren. Einige haben auf ihre Flaggen „Alle zusammen“ geschrieben – als Zeichen dafür, dass Spanier und Katalanen zusammengehören.
Nach Angaben der Societat Civil Catalana nahmen mehr als eine Million Menschen an der Demonstration teil. Die Polizei gab die Zahl mit 300.000 an. Auch Mitglieder der spanischen Zentralregierung waren unter den Teilnehmern, darunter Gesundheitsministerin Dolors Montserrat und der Vertreter Madrids in Katalonien, Enric Millo.
Ein großer Teil der katalanischen Gesellschaft sieht das jedoch anders. Der will sich von Spanien lossagen – in der Überzeugung, dass die katalanische Republik, die am Freitag illegal im Parlament in Barcelona ausgerufen wurde, ein besseres Leben ermöglicht.
„Das ist doch alles total verrückt“, schimpft García Merino. „Uns geht es hier hervorragend, wir wollen das nicht aufs Spiel setzen.“ Er hat vor ein paar Tagen bereits sein Bankkonto in eine Filiale außerhalb Kataloniens verlegt. Nun muss er für Unterschriften zwar einige Kilometer weit bis nach Zaragossa fahren, aber dafür ist er ruhiger. „Ich hatte Angst, dass die Separatisten das Geldabheben beschränken, wenn es nach einer Unabhängigkeitserklärung zu Panik kommt“, erklärt er.
Der 56-Jährige hat ebenso Vorkehrungen getroffen wie die katalanischen Banken und inzwischen 1700 Unternehmen. Sie alle haben ihre Zentrale von Katalonien in eine andere Region Spaniens verlegt. Grund war die Furcht davor, dass Katalonien eines Tages tatsächlich nicht mehr Teil von Spanien sein könnte. Für die überzeugten Separatisten ist das nach der Unabhängigkeitserklärung vom Freitag zwar bereits jetzt nicht mehr. Doch kein anderer Staat erkennt die frisch gegründete Republik an.
Madrid übernahm am Freitag zudem die Macht in Katalonien, nachdem der Senat beschlossen hatte, dass der mächtige Artikel 155 der spanischen Verfassung zum Einsatz kommen kann. Der erlaubt der Zentralregierung, eine Region zu zwingen, wieder zurück zur Legalität zu kehren.
Der Konflikt zwischen Barcelona und Madrid hat sich in den vergangenen Wochen derart zugespitzt, dass er die Gegner der Unabhängigkeit am Sonntag bereits zum zweiten Mal in diesem Monat zu Hunderttausenden auf die Straßen trieb. Zuvor hatten sie sich aus dem Konflikt stets herausgehalten. Sie wurden deshalb auch als „schweigende Mehrheit“ bezeichnet. In vergangenen Umfragen war eine knappe Mehrheit der Katalanen stets gegen die Unabhängigkeit. Am Sonntag zeigten sie Präsents und verwandelten Barcelona in ein Meer aus gelb roten katalanischen und spanischen Flaggen.
„Rajoy hat uns jahrelang hier alleine gelassen“
Dabei sind viele der Demonstranten auch nicht gerade Fans der Regierung in Madrid. „Rajoy hat uns jahrelang hier alleine gelassen“, sagt der Rentner José Martínez mit Blick auf den spanischen Premier Mariano Rajoy. Der hat die katalanischen Separatisten in der Vergangenheit nicht ernst genommen.
Nicht nur Martínez gibt ihm deshalb eine Mitschuld an dem Drama, das die Region derzeit erlebt. Doch solche Bedenken werden vorerst beiseitegeschoben. Jetzt geht es zunächst darum, die akute Krise zu meistern. Selbst die sozialistische Opposition hat sich mit Rajoy im Kampf gegen die Abtrünnigen vereint.
Die mächtige Demonstration der Gegner steht im Kontrast zu der Stille, die die Separatisten seit ihrer so lange ersehnten Unabhängigkeitserklärung am Freitag umgibt. Wider Erwarten feierten am Freitagabend nur einige Tausend die neue Republik. Am Samstag blieb es auf den Straßen ganz ruhig, obwohl der von Madrid abgesetzte katalanische Ministerpräsident Carles Puigdemont zu Widerstand gegen die Zwangsmaßnahmen aus Madrid aufrief.
Doch es scheint sicher, dass es so still in den kommenden Tagen nicht bleiben wird. Ab Montag übernehmen die neuen Chefs aus Madrid die Geschäfte in Barcelona. Das bietet jede Menge Konfliktpotenzial.
Nach Medienberichten könnte der Generalstaatsanwalt am Montag die Festnahme Puigdemonts anordnen. Sollte er wegen Auflehnung gegen die Staatsgewalt oder Rebellion verurteilt werden, drohen ihm bis zu 30 Jahre Haft. Puigdemont hatte am Samstag angedeutet, dass er seine Amtsenthebung durch die Zentralregierung in Madrid nicht anerkennt.
Bei der Neuwahl am 21. Dezember haben die Separatisten aber laut einer am Sonntag in der Madrider Zeitung „El Mundo“ veröffentlichten Umfrage möglicherweise schlechte Karten: Demnach müssen sie mit einem Verlust der Mehrheit im Regionalparlament rechnen. Würde jetzt gewählt, kämen die drei nach Unabhängigkeit strebenden Parteien zusammen auf höchstens 42,5 Prozent der Stimmen. Sie würden damit auf 65 Sitze im Parlament kommen. Für die absolute Mehrheit sind in Barcelona mindestens 68 Sitze nötig.