Solch eine Dreistigkeit macht sprachlos. Während gleichzeitig in seinem Land Parlamentsabgeordnete der Opposition unter fadenscheinigen Vorwänden verhaftet werden, bezichtigt der türkische Justizminister Bekir Bozdag Deutschland, dass ein in Deutschland lebender Türke „überhaupt keine Rechte“ habe. Die türkische Regierung verletzt nicht nur die Menschenrechte ihrer Bürger zuhause, sondern hetzt Millionen eigener Staatsbürger gegen das Land auf, in dem sie freiwillig leben, in vielen Fällen auch sozialstaatlich versorgt werden – und selbstverständlich alle Rechte genießen, die einem rechtmäßig in Deutschland lebenden Ausländer zustehen. Zum Beispiel das Recht auf freie Meinungsäußerung auf einer Massenveranstaltung des türkischen Präsidenten in Deutschland.
Warum kann sich die türkische Regierung diese Dreistigkeit gegenüber Deutschland erlauben? Weil Deutschland sie sich gefallen lässt. Die Ereignisse der letzten Monate offenbaren nicht nur die wachsende Hemmungslosigkeit der Erdoganschen Herrschaft nach innen und außen, sondern auch die immer offensichtlichere politische Schwäche der EU und vor allem Deutschlands. Man tut nichts gegen die Umwandlung des NATO-Verbündeten in eine islamistische Diktatur und lässt sich die dreistesten Provokationen gefallen. Deutschland wirkt wie gelähmt.
Merkels Regierung ist erpressbar. Doch das ist sie nur, weil sie zum selbstständigen Handeln in der Flüchtlingspolitik nicht willens ist. Es gibt keinen Plan B für den Fall des Scheiterns des Deals mit der Türkei, das offenbarte die Kanzlerin selbst am Donnerstag beim so genannten Flüchtlingsgipfel. Dass dieser in der Praxis ohnehin nicht so funktioniert, wie er sollte, weil tatsächlich nur lächerlich wenige Flüchtlinge in die Türkei zurückgebracht werden, belegen die Bilder von den überlaufenen griechischen Ägäis-Inseln und die Zahlen der EU-Kommission: Bis Ende September wurden von im Schnitt 85 täglich nach Griechenland Gekommenen nicht einmal drei täglich zurückgebracht. Man traut sich ganz offensichtlich nicht, den Deal konsequent auszutesten, also aus der Türkei angekommene Menschen in großer Zahl dorthin zurückzuschicken.
Während Erdogan und seine Mittäter handeln, ist die deutsche Politik vor allem durch das Prinzip Hoffnung geprägt. Jahrelang war es die Hoffnung, dass Erdogans AKP sich als türkisch-islamische Version der CDU zeigt. Seit dem Deal der Kanzlerin mit dem Herrscher in Ankara im März ist es die Hoffnung, dass letzterer die Flüchtlinge abhält nach Deutschland weiterzuziehen. Selbst zu handeln, selbst für das zu sorgen, wofür man Erdogan mit Geld und der Aussicht auf Visa-Freiheit bezahlt, scheint für das Kanzleramt keine Option zu sein. „Ein freundliches Gesicht“ zu zeigen - und auf keinen Fall Zähne-, ist offenbar alternativlose deutsche Staatsräson geworden. Tribut nannte man das im Mittelalter, wenn reiche Städte skrupellose Gewalttäter bezahlten, weil sie nicht für ihre Interessen selbst kämpfen wollten.
Darin zeigt sich eine Tendenz, die auch auf anderen Feldern erkennbar ist. Der Staat, zumindest der deutsche, drückt sich immer weiter weg von seiner eigentlichen Aufgabe: für Ordnung, Sicherheit und Freiheit zu sorgen und die gemeinschaftlichen Interessen zu verteidigen. Staatliches Handeln mit den Mitteln des Gewaltmonopols wird durch staatliche Zahlungen ersetzt.
Diese selbst verordnete Lähmung bestimmt nicht nur das jämmerliche Auftreten des deutschen Staates gegenüber den Machtdemonstrationen und Provokationen der heraufziehenden islamistischen Diktatur in der Türkei. Wie gelähmt zeigt sich der deutsche Staat zunehmend auch nach innen.
Leviathan wird zur Milchkuh
Wer hätte noch vor kurzem gedacht, dass man ernsthaft an der generellen Unzulässigkeit von Ehen mit Kindern zweifelt? Der Schutz der Kinder und die Gleichberechtigung von Mann und Frau scheinen für manch einen deutschen Politiker im konkreten Fall eben doch nicht so wertvoll zu sein, wie man bisher dachte. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özuguz, behauptet, ein pauschales Verbot würde „junge Frauen“ (Es geht um Kinder!) ins „soziale Abseits drängen“, weil sie schließlich Unterhalt von ihren „Ehepartnern“ bekämen. Als ob das „soziale Abseits“ nicht gerade durch die Zwangsverheiratung Unmündiger geschaffen würde!
Menschenrechtswidrige, vormoderne, pseudoreligiöse Traditionen von Eingewanderten zu brechen und den „ordre public“ notfalls per Gewaltmonopol des Staates durchzusetzen, traut sich auch das Bundesinnenministerium – eigentlich hauptverantwortlich für die Staatsgewalt – offenbar nicht mehr zu. Auch dort glaubt man, staatliches Handeln durch Bezahlvorgänge ersetzen zu können: Imame, die „Eheschließungen“ mit Kindern zelebrieren, sollen 1.000 Euro Bußgeld zahlen - als ob es sich um eine Ordnungswidrigkeit wie falsches Parken handelte.
Wie gelähmt tritt der Staat auch auf den Bahnhofsvorplätzen und anderen Kriminalitätshotspots der Republik auf. Wer Drogen verkauft oder Diebstähle begeht, kann in den meisten Fällen damit rechnen, dass er sehr bald nach der Festnahme – wenn sie überhaupt erfolgt – wieder frei kommt. Spätestens vor Gericht endet in der Regel die kurze Unterbrechung des kriminellen Geschäfts, wie Rainer Wendt von der Polizeigewerkschaft nicht müde wird zu klagen. Meist gibt es weder Haftstrafen noch Abschiebungen. Den Berliner Behörden genügt übrigens die Nachricht von kalten Temperaturen in der Heimat, um eine Abschiebung abzublasen. Entsprechend dreist treten diese „polizeibekannten Wiederholungstäter" auf - nicht nur gegenüber ihren Opfern, sondern auch gegenüber der Polizei. Und entsprechend steigen die Zahlen der Diebstähle und das allgemeine Empfinden der Unsicherheit an den Bahnhöfen und anderen öffentlichen Orten.
Das sind die Maschen der Taschendiebe
Während der Bahnfahrt haben Passagiere viel Zeit totzuschlagen. Bevorzugtes Instrument dafür ist das Smartphone. Wenn der Zug stoppt, begeben sich die Täter in die Nähe des Reisenden und entreißen ihm das Handy kurz bevor die Tür schließt und flieht.
Ähnlich wie der Rolltreppen-Trick funktioniert auch der Rempel-Trick. Ein Täter bleibt plötzlich stehen, das Opfer läuft aus. Während des daraus resultierenden Moments der Verwirrung zieht ein zweiter Täter die Wertsachen aus der Tasche. Bevorzugte Tatorte für diesen Trick sind öffentliche Verkehrsmittel und Ein- und Ausgangsbereiche von Zügen.
Ist es voll im Zug, rückt der Taschendieb unangenehm dicht an das Opfer heran. Dahinter steckt das Kalkül, dass das Opfer sich abwendet und dem Täter die Handtasche darbietet.
Der Taschendieb fragt sein Opfer nach einer Zugverbindung. Während das Opfer auf dem Fahrplan nach den Informationen für die Auskunft sucht, greift der Taschendieb unbemerkt in die Handtasche.
Geht es nach der Disco angetrunken und übermüdet mit der Bahn zurück gen Heimat, haben Taschendiebe oft ein besonders leichtes Spiel. Sie warten, bis das Opfer einnickt und nehmen es dann aus.
Der Taschendieb guckt Fahrgäste aus, die ihr Portemonnaie in der Gesäßtasche mit sich führen. Mit einem scharfen Gegenstand schlitzt er die Tasche auf und fängt das herausfallende Portemonnaie auf.
Der Täter beschmiert die Kleidung des Opfers „ausversehen“ mit Senf oder Ketchup und zeigt sich hilfsbereit. Während er die Kleidung mit einem Taschentuch säubert, nutzt ein anderer Täter die abgelenkte Aufmerksamkeit des Opfers aus und greift zu.
Taschendiebe bieten ihre Hilfe an und helfen dem Opfer die Reisetasche in den Zug zu tragen. Während der Taschenträger vorgeht oder einen Stau provoziert, stielt ein Mittäter die Wertgegenstände aus der Umhängetasche des Opfers.
Von außen klopft ein Täter am Bahnhof an die Scheibe des Zugs und bittet vermeintlich um Auskunft. Das Opfer ist abgelenkt. Ein anderer Täter nutzt die Situation aus und entwendet etwa die abgelegte Tasche.
Ein Täter hält die Rolltreppe mit der Nothilfeeinrichtung an. Im Gedränge wird das Opfer von einem zweiten Täter angerempelt, der die Wertsachen entwendet.
Wer einmal nachts mit dem IC der Deutschen Bahn von Hamburg ins Rheinland fuhr, wird vielleicht auch die lakonische Standardansage des Zugpersonals kennen: „Unsere Freunde, die Taschendiebe, sind gerade wieder eingestiegen. Bitte achten Sie auf Ihre Wertsachen und schlafen sie nicht ein, wir melden, wenn sie wieder ausgestiegen sind“. Tatsächlich sieht man dann einige Leute durch die Abteile huschen, die, wie die Zugbegleiterin erklärt, schon unzählige Male nach Diebstählen festgenommen wurden, aber dennoch immer wieder aufkreuzen.
Thomas Hobbes, der große englische Staatstheoretiker, nannte den Staat „Leviathan“ - nach einem mythischen allmächtigen Ungeheuer, gegen das jeder menschliche Widerstand vergeblich ist. Nur der Staat bewahrt die Menschen davor, in ihren Naturzustand zurückzufallen. Dieser staatslose Zustand ist nicht die große Freiheit, sondern, wie Hobbes schreibt, der Krieg aller gegen alle, in dem der Mensch des Menschen Wolf ist.
Aus dem allmächtigen Leviathan ist, so steht zu befürchten, mittlerweile eine träge Milchkuh geworden, die zwar immer größere Euter hat, aber ihre Hörner nicht mehr zu gebrauchen weiß. Die Wölfe beginnen das zu erkennen.