Knauß kontert Der lahme Staat

Der deutsche Staat gibt nicht nur gegenüber den türkischen Provokationen ein schwaches Bild ab. Er wagt immer weniger, für Ordnung, Sicherheit und Freiheit selbst zu sorgen. Geld soll es richten.

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Die Bundesrepublik ist ein schwacher Staat. Quelle: Marcel Stahn

Solch eine Dreistigkeit macht sprachlos. Während gleichzeitig in seinem Land Parlamentsabgeordnete der Opposition unter fadenscheinigen Vorwänden verhaftet werden, bezichtigt der türkische Justizminister Bekir Bozdag Deutschland, dass ein in Deutschland lebender Türke „überhaupt keine Rechte“ habe. Die türkische Regierung verletzt nicht nur die Menschenrechte ihrer Bürger zuhause, sondern hetzt Millionen eigener Staatsbürger gegen das Land auf, in dem sie freiwillig leben, in vielen Fällen auch sozialstaatlich versorgt werden – und selbstverständlich alle Rechte genießen, die einem rechtmäßig in Deutschland lebenden Ausländer zustehen. Zum Beispiel das Recht auf freie Meinungsäußerung auf einer Massenveranstaltung des türkischen Präsidenten in Deutschland.

Warum kann sich die türkische Regierung diese Dreistigkeit gegenüber Deutschland erlauben? Weil Deutschland sie sich gefallen lässt. Die Ereignisse der letzten Monate offenbaren nicht nur die wachsende Hemmungslosigkeit der Erdoganschen Herrschaft nach innen und außen, sondern auch die immer offensichtlichere politische Schwäche der EU und vor allem Deutschlands. Man tut nichts gegen die Umwandlung des NATO-Verbündeten in eine islamistische Diktatur und lässt sich die dreistesten Provokationen gefallen. Deutschland wirkt wie gelähmt.

Merkels Regierung ist erpressbar. Doch das ist sie nur, weil sie zum selbstständigen Handeln in der Flüchtlingspolitik nicht willens ist. Es gibt keinen Plan B für den Fall des Scheiterns des Deals mit der Türkei, das offenbarte die Kanzlerin selbst am Donnerstag beim so genannten Flüchtlingsgipfel. Dass dieser in der Praxis ohnehin nicht so funktioniert, wie er sollte, weil tatsächlich nur lächerlich wenige Flüchtlinge in die Türkei zurückgebracht werden, belegen die Bilder von den überlaufenen griechischen Ägäis-Inseln und die Zahlen der EU-Kommission: Bis Ende September wurden von im Schnitt 85 täglich nach Griechenland Gekommenen nicht einmal drei täglich zurückgebracht. Man traut sich ganz offensichtlich nicht, den Deal konsequent auszutesten, also aus der Türkei angekommene Menschen in großer Zahl dorthin zurückzuschicken.     

Während Erdogan und seine Mittäter handeln, ist die deutsche Politik vor allem durch das Prinzip Hoffnung geprägt. Jahrelang war es die Hoffnung, dass Erdogans AKP sich als türkisch-islamische Version der CDU zeigt. Seit dem Deal der Kanzlerin mit dem Herrscher in Ankara im März ist es die Hoffnung, dass letzterer die Flüchtlinge abhält nach Deutschland weiterzuziehen. Selbst zu handeln, selbst für das zu sorgen, wofür man Erdogan mit Geld und der Aussicht auf Visa-Freiheit bezahlt, scheint für das Kanzleramt keine Option zu sein. „Ein freundliches Gesicht“ zu zeigen - und auf keinen Fall Zähne-, ist offenbar alternativlose deutsche Staatsräson geworden. Tribut nannte man das im Mittelalter, wenn reiche Städte skrupellose Gewalttäter bezahlten, weil sie nicht für ihre Interessen selbst kämpfen wollten.

Darin zeigt sich eine Tendenz, die auch auf anderen Feldern erkennbar ist. Der Staat, zumindest der deutsche, drückt sich immer weiter weg von seiner eigentlichen Aufgabe: für Ordnung, Sicherheit und Freiheit zu sorgen und die gemeinschaftlichen Interessen zu verteidigen. Staatliches Handeln mit den Mitteln des Gewaltmonopols wird durch staatliche Zahlungen ersetzt.

Diese selbst verordnete Lähmung bestimmt nicht nur das jämmerliche Auftreten des deutschen Staates gegenüber den Machtdemonstrationen und Provokationen der heraufziehenden islamistischen Diktatur in der Türkei. Wie gelähmt zeigt sich der deutsche Staat zunehmend auch nach innen.

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