Knauß kontert

Erdogan liquidiert die Freiheit – der Westen schweigt

Ferdinand Knauß Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche
Ferdinand Knauß Reporter, Redakteur Politik WirtschaftsWoche Online Zur Kolumnen-Übersicht: Anders gesagt

In der Türkei passiert ungeheuerliches: Ein NATO-Mitgliedsland wird zur islamistischen Diktatur und rüstet sich für den Bürgerkrieg. Die Reaktion des Westens dagegen ist jämmerlich.

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Türkei: Recep Tayyip Erdoğan sind alle Mittel recht. Quelle: AP

Wir müssen über die Türkei reden. Was in jüngster Zeit in diesem Land - Mitglied der NATO und immer noch offizieller Beitrittskandidat der EU – passiert, ist ungeheuerlich. Und geradezu gespenstisch ist dagegen die Reaktion der westlichen Regierungen, inklusive der Deutschen: Schweigen und jämmerliche Beschwichtigungsversuche. Man lässt es einfach geschehen, dass sich dieses wichtige Land, das im 20. Jahrhundert als Vorreiter der Verwestlichung der islamischen Welt galt, in atemberaubendem Tempo zu einer islamistischen Diktatur entwickelt.

Nur ein paar Beispiele, für das, was in der Türkei passiert:

Präsident Erdogan stellt offen die Grenzen seines Landes in Frage, die im Vertrag von Lausanne 1924 mit den westlichen Alliierten geregelt sind. In türkischen Medien, die längst alle mehr oder weniger treu zu seiner islamistischen AK-Partei stehen, werden Landkarten präsentiert, die Mossul und Teile Griechenlands als zu einem türkischen Reich gehörig darstellen. Und das zu einem Zeitpunkt, da die türkische Armee sich gegen den Willen der irakischen Regierung am Kampf um Mossul beteiligt. Sie behauptet das zumindest, in Bagdad wird es dementiert. Dass türkische Soldaten wiederholt auf syrisches Territorium vorgedrungen sind, dementiert niemand.

Aus der Perspektive der Anhänger Erdogans ist das nur recht und billig: Schließlich waren Syrien und der Irak bis 1918 Teil des Osmanischen Reiches, von dem man in Istanbul und Ankara längst nicht nur nachts wieder träumt. 

Zugleich rüsten sich die türkischen Bürger offenbar verstärkt mit Handwaffen aus. Da sich Erdogan und seine Islamisten-Partei auf eine Mehrheit der Bevölkerung stützen können, wird der Waffen-Boom nicht gebremst – im Gegenteil. Seit dem Putsch vom 15. Juli, dessen Hintergründe wohl nie wirklich geklärt werden (waren Gülen-Anhänger oder Kemalisten die Putschisten?), sprechen AKP-Unterstützer wie der Erdogan-Berater Seref Malkoc offen davon, dass bewaffnete Bürger einen nächsten Putsch abwehren können sollten. Der Innenminister erklärt: „Wir werden jedem AKP-Funktionär einen Waffenschein geben“.

Die Organisation „Osmanische Einheit 1453“ (die Jahreszahl erinnert an die Einnahme Konstantinopels, des späteren Istanbuls) rief im Netz „alle Brüder“ auf, sich „für das Vaterland, für die Flagge und für Erdogan“ zu bewaffnen. Für letzteren werde man „sterben und töten“ und „bis aufs Blut“ kämpfen. Die Regierung und AKP-Funktionäre schreiten nicht etwa ein, sondern berichten stolz, dass sich die Auslieferung registrierter Schusswaffen stark erhöht habe. Hunderttausende junge Anhänger unterstützten die Kampagne (#AkSilahlanma) auf Twitter.

Der türkische Journalist Yavuz Baydar sieht die Türkei kurz vor einem Bürgerkrieg. Der Eindruck, dass sich die Islamistische AKP einen eigenen bewaffneten Arm zulegt, um genau dafür gerüstet zu sein, drängt sich jedenfalls auf. Wie soll unter diesen Umständen jemals wieder eine freie und friedliche Wahl ohne Einschüchterung der Opposition möglich sein?

Nicht zu vergessen: Die Türkei führt in den kurdischen Siedlungsgebieten ohnehin längst wieder einen Bürgerkrieg gegen die größte ethnische Minderheit. Ralf Fuecks, Chef der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, berichtet auf Facebook von einer Reise nach Diyarbakir, der größten kurdisch bewohnten Stadt des Landes, in der Anfang des Jahres die türkische Armee mit schweren Waffen gegen aufständische Jugendliche vorging: „Die Kampfzone ist immer noch abgeriegelt. Um die Spuren der Gewalt zu verwischen, wurden zahlreiche Gebäude abgerissen. Mitten in der historischen Altstadt gibt es jetzt große Brachflächen. Auch in anderen kurdischen Städten setzte die Armee ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung Panzer, Artillerie und Kampfhubschrauber ein, um den bewaffneten Aufstand zu bekämpfen.“

Vor wenigen Tagen wurden mehrere Bürgermeister kurdischer Städte, auch Diyarbakirs verhaftet. Dadurch werden friedliche Lösungen in Verhandlungen immer unwahrscheinlicher. „Die Erbitterung ist groß“, schreibt Fuecks.

Ein düsteres Bild der Lage

Nicht nur in den Kurdengebieten, sondern in der gesamten Türkei werden unter dem Vorwand der Bekämpfung der Putschisten die Fundamente der säkularen Zivilgesellschaft geschliffen - obwohl der Putsch nach offizieller Lesart ein Werk der islamistischen Gülen-Bewegung gewesen sein soll. Unliebsame Professoren leiden unter Schikanen, zum Beispiel Reiseverboten.

Viele werden entlassen. Fuecks berichtet von einem Mediziner, der ohne Pensionsansprüche geschasst wurde, weil er einen Aufruf zur friedlichen Beilegung des Kurden-Kriegs unterschrieben hat.

Rund 1000 weltliche Schulen und einige Privatuniversitäten müssen schließen. Das traditionsreiche Kadiköy Anadolu Lisesi, ein einst von Franziskanern gegründetes Gymnasium, in dem auch auf Englisch und Deutsch unterrichtet wird, soll offenbar in eine islamistische Imam-Schule umgewandelt werden, so hört man aus Wissenschaftlerkreisen. Das hätte auch Symbol-Wirkung, da die Schule sich in einem beliebten Ausgehviertel befindet.

"Wer dieser Tage mit Bürgerrechtlern, Intellektuellen, entlassenen Journalisten und oppositionellen Parlamentariern spricht, bekommt ein düsteres Bild der Lage“, berichtet Fuecks aus Istanbul. Er spricht von einem „Staatsstreich von oben“:  Unter dem Vorwand des Putsches wurden rund 3500 Richter (darunter zwei Mitglieder des Verfassungsgerichts) und 10.000 Lehrer entlassen, 23 Fernseh- und Rundfunkstationen geschlossen, rund 120 Journalisten verhaftet.

Fazit: Die Türkei unter der AKP-Herrschaft wahrt nicht mal mehr die Fassade der Rechtsstaatlichkeit. Das Land unterscheidet immer weniger von einer offenen islamistischen Diktatur.

Probleme im deutsch-türkischen Verhältnis

Und was tut der Westen, was tut Deutschland? Man sollte meinen, dass heftige Diskussionen darüber ausbrechen, was es bedeutet, mit einen islamistischen Staat in der NATO verbündet zu sein? Man kann nur hoffen, dass es diese Erörterungen in den Hinterzimmern der Mächtigen in westlichen Hauptstädten gibt. Auf öffentlicher Ebene hört man kaum davon. Schon gar nicht in Berlin.

Stattdessen kommt es zu kaum verschleierten Unterwerfungsgesten, zuletzt zu dieser: Das Auswärtige Amt sagte ein Konzert zum Gedenken an den Völkermord an den Armeniern im deutschen Generalkonsulat in Istanbul ab. Die Dresdner Sinfoniker hatten zuvor Erdogan und seine Regierung zu der am 13. November geplanten Veranstaltung eingeladen. Aus Berlin verlautete dazu: „Einladungen zu der Veranstaltung sind ohne Beteiligung des Auswärtigen Amtes erfolgt.“ Man distanziert sich – auf türkischen Druck hin – von einem Projekt, das die Bundesregierung selbst mitfinanziert hat.

Die Hoffnung, dass die Entwestlichung und Islamisierung der Türkei sich noch aufhalten lassen, schwindet. Der Westen selbst tut wenig bis nichts, um den Anhängern seiner Ideale in der Türkei den Rücken zu stärken. Wie gelähmt schaut man von Washington bis Berlin dem Zerfall der einst westlich orientierten Türkei zu. Erdogan und sein Regime führen der gesamten Welt und vor allem den Muslimen überdeutlich vor Augen, wie schwach der Westen ist, wenn es um die Bewahrung von Freiheit und Demokratie geht.

Übrigens: In diesen Tagen jährt sich zum 60. Mal der Aufstand in Ungarn gegen die sowjetische Fremdherrschaft. 1956 traute sich die NATO nicht, dem um seine Freiheit kämpfenden Ungarn beizustehen. Damals gab es einen überzeugenden Grund dafür: Es drohte ein Atomkrieg.

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