
"Erkaltet", schreibt Gabor Steingart im Handelsblatt, sei die "einst lodernde Beziehung der Deutschen" zur Marktwirtschaft. Richtiger ist, dass die nie sehr warm war. Viel anheimelnder ist das Verhältnis der Deutschen zum Staat - und nicht erst seit dem Lehman-Crash.
Es muss mit Hegel begonnen haben, der den Staat als gottgleiches Wesen in den Himmel gehoben hat. Und dort schwebt er auch in der deutschen Vorstellung. Auf Erden toben die Selbstsucht, die Gier, die Dummheit. Da oben aber herrscht der "alles vereinende Staat" als "Verkörperung der Vernunft". Er steht für das Allgemeinwohl; er sorgt dafür, dass das "Interesse der Einzelnen" nicht der "letzte Zweck" sei.
Wie anders der angelsächsische Liberalismus mit seinem skeptischen Menschen- und Staatsbild! Für Locke, Smith und Jefferson war der Staat nicht göttlich, sondern gefährlich, ein schlummerndes Raubtier, das von den Bürgern zum Schutz ihrer Freiheiten an die kürzeste Kette gelegt werden müsse. Dass der Staat seine eigenen Interessen haben könnte, dazu eine vom Staat getragene Klasse, die ständig ihre Macht auszudehnen sucht - dieser Gedanke ist in Deutschland, ja in Kontinentaleuropa kaum zu finden.
Es herrsche, so "FAZ"-Herausgeber Schirrmacher, der "Machtkampf zwischen dem Primat des Ökonomischen und dem Primat des Politischen". Der Markt gewinnt, der Staat verliert, die Demokratie verkommt zum "Ramsch". Deren Erstgeburtsrecht hätten ihr "Ratingagenturen und Analysten" abgeluchst. Habermas beklagt eine "von den Märkten kujonierte politische Klasse", deren Vertreter "an den Drähten der Finanzindustrie zappeln".
So ähnlich hat schon Marx doziert: der Staat als Erfüllungsgehilfe der Bourgeoisie. So ist es in der ideologischen DNA der Deutschen verankert. Die Wirtschaft ist der Kampf zwischen "schaffendem und raffendem Kapital", zwischen den braven Erzeugern und den Wucherern, die Werte weder haben noch erbringen (als ob kein Bauer sich für seinen Pflug Geld leihen müsste). Der Investor ist "Spekulant", Profitstreben ist "Gier". Das läuft von weit rechts bis weit links. Zwar haben die Finanzakrobaten märchenhaften Reichtum abgeschöpft. Der Denkfehler der Antikapitalisten ist bloß, dass sie an den Drähten Hegels zappeln.
Absicht: Nett - Ergebnis: Mörderisch.
Denn auch sie wähnen, dass der Staat der Inbegriff von Vernunft sei. Sie können sich nicht vorstellen, dass dieser ebenfalls dumm und gierig sein kann. Deshalb ist ihre Beweiskette so kurz. Verlängern wir sie, und sie zeigt: Überall im Westen hat der Staat den Tisch bereitet, an dem sich das "Finanzkapital" vollgeschlagen hat. Überall hat der demokratische Staat seinen Bürgern mehr gegeben, als er ihnen abgenommen hat; deshalb seine astronomischen Schulden. Überall hat der Staat seit knapp 30 Jahren mit billigem Geld die Blasen genährt.
In Amerika kam hinzu, dass der "gute Staat" im Namen sozialer Gerechtigkeit die eigenen Hypothekenanstalten dazu gezwungen hat, Milliardenkredite unter Leute zu bringen, die sie nicht bedienen konnten. Hatte nicht Bill Clinton 1994 verkündet: "Mehr Amerikaner sollten Hausbesitz haben; so blüht und gedeiht der amerikanische Traum"?
Warum sollten die Banker nicht Hypotheken an Zahlungsschwache verschleudern, wenn die quasi-staatliche Fannie Mae ihnen den Schrott abkaufen würde? Die Immobilienblase, vom Staat zehn Jahre lang aufgepumpt, begann 2006 zu platzen. Heute stehen in den USA an die fünf Millionen Häuser "unter Wasser": Ihr Marktwert liegt unter der Hypothekenschuld. Nett die Absicht, mörderisch das Ergebnis.
Gier & Exzess? Wenn der Staat so vernünftig wäre, wie Hegel es träumte, hätten die deutschen Landesbanken sowie die staatsnahen "großen vier" Frankreichs nicht so blind die Derivate sowie die Staatsschulden der Euro-Pleiteländer aufgesogen. Jeder Banklehrling weiß: je höher die Rendite, desto höher das Risiko.
Wir reden nicht nur von Griechenland, dessen Staatsschuld fast 150 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt ausmacht. Auch von Frankreich. Vor 30 Jahren lag die Staatsschuld bei 20 Prozent, heute liegt sie bei 85 Prozent. Ohne den Überfluss an hübschen goldgeränderten Papieren mit dem Staatswappen drauf würden die "Märkte" heute nicht jene "politische Klasse kujonieren", die diese Schulden angehäuft hat.
Der Staat ist auch Beute
Wir dürfen den "Märkten" die obszönen Boni und "goldenen Fallschirme" vorwerfen, nicht aber, dass sie die Schwächen im System aufspüren und Risikoaufschläge nehmen. Dazu sind die Märkte da. Sie fordern die Verantwortung ein, die der Staat preisgegeben hat. Das "Primat des Politischen" hat hier - wie überall in den Krisenländern - das "Primat des Ökonomischen" überwältigt - nicht umgekehrt. Hätte ökonomische Vernunft obsiegt und für Haushaltsdisziplin gesorgt, wäre der Welt die gegenwärtige Katastrophe erspart geblieben. Und die Finanzjongleure wären dezidiert ärmer gewesen.
Warum macht der Staat diesen Blödsinn, den man getrost auch "kriminelle Fahrlässigkeit" nennen darf? Weil er eben, anders als das Gros der Nation und ihrer Philosophen wähnt, nicht die "Verkörperung der Vernunft" ist. Er ist "wir", genauer: das Vektorparallelogramm der bestorganisierten oder privilegierten Gruppen. Zu denen gehört gewisslich auch das "Kapital".
Richtig ist, dass zum Beispiel die US-Finanzwirtschaft nicht ganz unschuldig an der historischen Entscheidung der Regierung Clinton war, 1999 die betonharte Trennung zwischen Investment- und Geschäftsbanken aufzuheben. So entstand ein gigantisches "systemisches Risiko", das weder die Banken noch deren Kontrolleure sehen, geschweige denn verstehen konnten. Hier liegt eine Ursache für den Crash von 2008 - "made in Congress," einer Hauptabteilung des amerikanischen Staates.
Trotzdem: Marx war klüger als Hegel. Er hat begriffen, dass der Staat auch Beute ist. Damals war's die böse Bourgeoisie, heute kann (fast) jeder mitmischen. Nehmen wir das Horrorbeispiel Griechenland. Hier sind es nicht nur die reichen Reeder, die ihre Schiffe in Panama beflaggen. Oder die Immobilienbesitzer, die kein Interesse an einem Katasteramt haben, das den Steuerwert ihrer Grundstücke festlegt. Nein, es sind vor allem die "kleinen Leute", vorweg die Gewerkschaften des öffentlichen Diensts, die Steuergelder in fette Löhne umlenken, die dafür gesorgt haben, dass ihre Mitglieder kürzer arbeiten und früher in Rente gehen als anderswo.
Grob umrissen hat sich die Staatsquote in Europa seit Kriegsende etwa verdoppelt: von einem Viertel auf die Hälfte des BIP; dabei ist die deutsche Sozialquote von 17 auf 30 Prozent gestiegen. Wie kann man bei diesem Gebilde überhaupt von "Kapitalismus" reden? Zu Marxens Zeiten lag die Staatsquote im Frieden bei fünf Prozent.
Zu viel Hegel, zu wenig Hobbes
Das aber sei nur eine historische Fußnote. Entscheidend ist, dass der Wohlfahrtsstaat zum Defizit- und Schuldenstaat geworden ist, der seinen Bürgern mehr gibt, als die zu zahlen bereit sind. Der es ihnen erlaubt, ja, sie dazu ermuntert, ihre Ansprüche zu maximieren und die Rechnungen zu minimieren, indem sie diese an die nächsten Generationen weiterreichen. Der Staat ist der Finanzjongleur, der jeden Hedge-Fonds-Gründer neidisch werden lässt. Warum ist der demokratische Staat leichtsinniger als alle Spekulanten zusammen?
Weil er - genauer: die jeweilige Regierung - seine Macht wahren und mehren will. Deshalb die Wahlgeschenke, die Transfers, die Subventionen, die Steuerschlupflöcher, die Marktprivilegien, die wettbewerbshemmenden Regulierungen, das billige Geld der Zentralbanken, kurz: die "Staatsknete". Die bläht seit Jahrzehnten Wohltaten und Schulden auf - und zuletzt die großen Spekulationsblasen von Spanien bis Kalifornien. Die Suppe hat der Staat angerichtet, die bösen Buben haben die Fettaugen weggelöffelt.
Die Kapitalismuskritik sieht nur gierige Fresser. Den Staat wollen sie nicht sehen, denn der ist ja die "Verkörperung der Vernunft". In Deutschland wird zu viel Hegel und zu wenig Hobbes gelesen. Der Urvater des politischen Realismus hat in dem Büchlein Human Nature (1651) eine hübsche Metapher für die Verwechselung von Realität und Epiphänomen ("Begleiterscheinung") benutzt. Das ist die Fliege, die auf der Wagenachse sitzt und darüber staunt, "wie viel Staub ich doch aufwirbele". Die Staatskarosse ist das Problem; der von der Finanzwirtschaft aufgewirbelte Staub verstellt bloß den Blick auf das, was vorausfährt.