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Kommentar Trübe Aussichten für Occupy Wall Street

Hat die Occupy-Bewegung Zukunft? Die Polizei setzt ihr schwer zu. Die eigentlichen Probleme aber liegen bei den Aktivisten selbst. Machen sie einfach so weiter, dürfte die Protestwelle über kurz oder lang versickern.

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Schlafender Occupy-Protestler: Die Luft scheint (vorerst) raus bei der Bewegung. Quelle: AFP

Washington Jetzt wollen sie es noch einmal wissen. Auf den Tag genau vor zwei Monaten waren die ersten Protestler von Occupy Wall Street durchs New Yorker Finanzviertel gezogen, und heute sollen Zehntausende es ihnen nachtun. Die bedrängten Aktivisten im Zuccotti Park haben zur bisher größten Demonstration in der kurzen Geschichte der Bewegung aufgerufen, die Polizei rechnet mit einem Massenauflauf.

Die Protestler und ihre Unterstützer dürften sich bestätigt fühlen: Wer hart gegen die Demonstranten vorgeht, sagten sie voraus, mache sie nur noch stärker. New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg habe einen großen Fehler gemacht, als er am Dienstag über Nacht Zelte, Schlafsäcke und Kochstellen einreißen ließ.

Das ist die eine Prophezeiung. Die andere ist: Die angekündigten Massenproteste könnten das letzte Aufbäumen der Bewegung sein, bevor sie über kurz oder lang in der Versenkung verschwindet. Denn Occupy Wall Street ist in seiner jetzigen Form kaum aufrechtzuerhalten.

Da wären zunächst die äußeren Faktoren. Bürgermeister von Seattle über Oakland bis New York verloren in dieser Woche reihenweise die Geduld. Polizisten marschierten auf, bauten Zelte ab und nahmen Demonstranten fest. Auch in London erhielten die Aktivisten bereits den Räumungsbefehl. Die dauerhafte „Besetzung“, die „Occupation“, die die Bewegung im Namen trägt, wird ohne die mühsam aufgebaute Infrastruktur nahezu unmöglich – zumal im Winter.

Doch die größten Probleme liegen in der Bewegung selbst: So ist die Frage aller Fragen auch nach zwei Monaten noch immer nicht klar: Was wollen die Demonstranten?

Zwar muss man nicht immer gleich eine ausgefeilte Lösung präsentieren, wenn man herrschende Zustände kritisiert. Doch die Aktivisten konnten sich bislang auf ihren Generalversammlungen noch nicht einmal darauf einigen, ob man sich auf Ziele einigen soll. Ganz zu schweigen davon, welche. Und selbst wenn es dazu kommen sollte: Es gäbe niemanden, der die Anliegen verkörpern, bündeln und nach außen tragen könnte. Die Bewegung verzichtet auf Anführer.


Der Protest wird zum bloßen Selbstzweck

So wird der Protest zum bloßen Selbstzweck. Die Folge: Die breite Öffentlichkeit in Amerika – die „99 Prozent“, die Occupy repräsentieren will – kann sich laut Umfragen noch immer nichts Konkretes unter der Bewegung vorstellen. Und sie verliert zunehmend das Interesse.

Noch immer wird Occupy vor allem als bunter Haufen jugendlicher Aktivisten mit einem Sammelsurium an Forderungen wahrgenommen. Ältere Mitstreiter und brave Mittelschichtler haben sich in letzter Zeit rarer gemacht, in manchen Camps gab es stattdessen Anzeichen von Lagerkoller. Streits häuften sich, es gab Berichte über Drogen, sexuelle Übergriffe und schlechte hygienische Zustände. Wie lange werden sich wohl noch täglich Hunderte und Tausende in jeder Stadt aufraffen können, Plakate zu malen und Sprechchöre anzustimmen?

Es wäre tragisch, sollte sich die Bewegung auf diese Weise totlaufen. Denn sie hat ja eine Menge erreicht: Aus einer Handvoll Aktivisten wurde eine weltweite Bewegung. Die wachsende Ungleichheit in Amerika wurde ein Thema für die Titelseiten. Und Manager und Politiker bis hin zum US-Präsidenten mussten sich damit auseinandersetzen.

Und so steht die Bewegung zwei Monate nach ihrer Geburt vor einem Wendepunkt. Macht sie so weiter wie bisher? Oder entwickelt sie sich, durch politische Arbeit in Gemeinden etwa, durch die Wahl von Abgeordneten, die die Ziele der Aktivisten vertreten, oder durch den Marsch durch die Institutionen?

Das Magazin „Adbusters“, das seinerzeit zur allerersten Occupy-Aktion aufgerufen hatte und sich nun Sorgen um die Zukunft der Bewegung macht, hat einen Vorschlag: Erklärt Euren Sieg und feiert eine Riesenparty. Dann räumt auf, zieht euch über den Winter nach Hause zurück und denkt nach, wie es weitergehen soll. Und kommt schließlich zurück – „verjüngt, mit frischen Taktiken, Philosophien und unzähligen Projekten, um im nächsten Frühling richtig loszulegen“. Nur so dürfte Occupy Wall Street eine Zukunft haben.

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