Konjunktur in der Türkei „Erdogans Wille geschehe“

Der türkische Präsident wird zum Risiko für die Wirtschaft: Zwar wächst die türkische Wirtschaft noch. Doch Recep Tayyip Erdogans Machtstreben verzögert überfällige Strukturreformen.

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Galt die Türkei in den Jahren 2003 bis 2013 noch als ein politisch stabiles, reformorientiertes Land, werden Erdogans Machstreben inzwischen von den Märkten kritisch gesehen Quelle: AFP

Athen Die türkische Wirtschaft wächst stärker als erwartet. Aber die zunehmende Machtkonzentration in den Händen von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, die Eskalation des Kurdenkonflikts, die Bedrohung durch den Terrorismus und Erdogans konfrontationsgeladene Außenpolitik verunsichern ausländische Investoren und Anleger. Der Staatschef, der früher als „Vater des türkischen Wirtschaftswunders“ gefeiert wurde, wird zunehmend zu einem Risikofaktor.

Das türkische Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat im ersten Quartal mit einem Plus von 4,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr die meisten Prognosen übertroffen. Die Analysten hatten im Durchschnitt mit einem Zuwachs von 4,4 Prozent gerechnet. Fabian Hungerland, Türkei-Experte der Berenberg Bank, führt diesen Schub allerdings auf einen Einmal-Effekt zurück: „Der deutlich erhöhte Mindestlohn zu Beginn des Jahres trieb das Wachstum mehr als erwartet“. Die Exporte gingen dagegen zurück.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet für dieses Jahr ein Wachstum von 3,8 Prozent, nach vier Prozent im Vorjahr. Die EU-Kommission setzt in ihrer Frühjahrsprognose 3,5 Prozent Wachstum an. Die Ratingagentur Standard & Poor’s erwartet 3,4 Prozent.

Von ihrem Boom in den Jahren 2002 bis 2011, dem ersten Jahrzehnt der Ära Erdogan, als die türkische Wirtschaft um durchschnittlich sieben Prozent pro Jahr zulegte, ist die Türkei damit weit entfernt. Allein um ihre Beschäftigungsquote zu sichern, brauche das Land ein jährliches Wirtschaftswachstum von mindestens fünf Prozent, meint der Istanbuler Ökonom und Wirtschaftskolumnist Mustafa Sönmez. Ein Alarmsignal ist die Arbeitslosenquote, die mit über zehn Prozent auf dem höchsten Stand seit vier Jahren liegt. Unter den 15- bis 24-Jährigen beträgt sie sogar 18 Prozent. Das birgt soziale Sprengkraft.

Die wachsende Arbeitslosigkeit und die steigende Inflation, die nach der EU-Prognose in diesem Jahr 8,6 Prozent erreichen dürfte, sind keine guten politischen Vorzeichen für Präsident Erdogan – auch wenn der Staatschef derzeit fester denn je im Sattel zu sitzen scheint. Mit der Ablösung des bisherigen Premierminister Ahmet Davutoglu zog Erdogan im Mai noch mehr Kompetenzen an sich. Das spiegelt sich auch in der Besetzung des neuen Kabinetts. Der bisher für die Koordination der Wirtschafts- und Finanzpolitik zuständige Vizepremier Mehmet Simsek gehört zwar auch der neuen Regierung an, muss aber wichtige Geschäftsbereiche wie die Zuständigkeit für die Kapitalmarkt- und Bankenaufsicht an Erdogan-Vertraute abgeben. Simsek, ein früherer Merrill Lynch-Manager, galt bisher unter Investoren und Anlegern als Garant wirtschaftspolitischer Kontinuität. Dass er nun teilweise entmachtet wird, ist keine gute Nachricht.


„Stabilitätsfaktor und Risikoquelle zugleich“

„Erdogans Wille geschehe“, sei derzeit und auf absehbare Zukunft das Motto in der Türkei, sagt Berenberg-Ökonom Hungerland. Erdogans „One-Man-Show“ polarisiere aber das Land immer mehr. Hungerland spricht von einem „Erdogan-Paradox“: Der Präsident sei „Stabilitätsfaktor und Risikoquelle zugleich“.

Letzteres gilt auch für die Wirtschaftsziehungen zu Deutschland, dem größten Handelspartner der Türkei und einem der wichtigsten ausländischen Investoren. Nahezu 6.000 deutsche Firmen sind in der Türkei. Jetzt belastet die Kontroverse um die Armenier-Resolution des Bundestages das Klima. Erdogan heizte den Streit mit persönlichen Angriffen auf türkischstämmige Bundestagsabgeordnete an. Als Vergeltung für die Armenier-Resolution, erwägt die Regierung in Ankara jetzt einen „Aktionsplan“ – möglicherweise auch gegen deutsche Unternehmen.

Auch der Türkei-Experte Gregor Holek, Emerging Markets-Fondsmanager bei Raiffeisen Capital Management, sieht steigende Risiken am Bosporus. Galt die Türkei in den Jahren 2003 bis 2013 noch als ein politisch stabiles, reformorientiertes Land, werde Erdogans Machstreben inzwischen von den Märkten kritisch gesehen: „Die Regierung ist derzeit fast ausschließlich mit dem Ausbau der Macht des Präsidenten beschäftigt, wichtige Reformen werden aufgeschoben“, so Holek. Auch die wieder aufgeflammte Kurdenkonflikt binde politische und finanzielle Ressourcen, meint der Fondsmanager.

Dabei hätte die Politik angesichts der Kapitalabflüsse und der Zurückhaltung ausländischer Investoren jetzt allen Grund, die seit Jahren aufgeschobenen Reformen endlich in Angriff zu nehmen. Hauptproblem der Türkei bleibt das außenwirtschaftliche Ungleichgewicht, abzulesen am chronischen Leistungsbilanzdefizit. Es spiegelt die Exportschwäche der Wirtschaft, ihre mangelnde Innovationskraft und die geringe Wertschöpfung. Die extrem niedrige Sparquote macht das Land in hohem Maß abhängig von ausländischen Kapitalzuflüssen, die Liquiditätslage der türkischen Banken ist angespannt. Zur umfangreichen türkischen Reform-Agenda gehören auch der seit Jahren überfällige Umbau des Rentensystems und die Deregulierung des Arbeitsmarktes.

Doch nicht nur die überfällige Modernisierung der Wirtschaft stockt: „Das fortschreitende Aushöhlen von demokratischen Rechten, Justizsystem und Pressefreiheit durch Erdogan und seine Gefolgsleute haben auf den türkischen Finanzmärkten deutliche Spuren hinterlassen“, heißt es im jüngsten Länderbericht von Raiffeisen Capital Management. Fondsmanager Gregor Holek ist skeptisch: „Saubere Gewaltenteilung und starke Institutionen sind eine Voraussetzung für ein positives Investitionsklima – man hat allerdings nicht den Eindruck, dass die Reise in diese Richtung geht.“

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