Nach der Verfassung wird Indien vom Premierminister regiert, der heißt derzeit Manmohan Singh. Und an der Staatsspitze steht ein Präsident, das ist Pranab Mukherjee. Der mächtigste Politiker des Landes ist jedoch eine Frau: Sonia Gandhi, Witwe des 1991 ermordeten Premierministers Rajiv Gandhi und Chefin des allmächtigen Gandhi-Clans.
Indiens heimliches Machtzentrum
Wie keine andere Familie haben die Gandhis Indiens Schicksal bestimmt: Rajivs Mutter Indira Gandhi regierte das Land insgesamt 15 Jahre lang bis zu ihrer Ermordung 1984. Ihr Vater Jawaharlal Nehru hatte Indien in die Unabhängigkeit geführt und als Ministerpräsident bis 1962 gelenkt.
Sonia Gandhi strebt als gebürtige Italienerin zwar kein Regierungsamt an, ist aber Präsidentin der Kongresspartei. Ihr Hauptziel sei, so sagt man in Delhi, ihren Sohn Rahul als Nachfolger Singhs aufzubauen. Nichts läuft in Indien gegen Sonia Gandhi. Sie ist Indiens eigentliches Machtzentrum.
Die Kongresspartei hat nach ihrem Wahlsieg 2005 wieder die Regierung übernommen und wurde 2009 wiedergewählt. Doch Ministerpräsident Singh enttäuschte die Erwartungen. Dabei galt er als Wirtschaftsreformer: Als Finanzminister hatte er 1991 die erste große Liberalisierungswelle angestoßen und den Aufstieg Indiens zu einem wachstumsstarken Bric-Land ermöglicht. Für sein nun zögerliches Taktieren verpasste ihm die internationale Presse schlechte Noten. Das amerikanische Time-Magazin schimpfte ihn auf ihrem Titel als „Underachiever“. Deutsche Personaler haben dafür das Wort "Minderleister".
Doch in Wahrheit konnte Singh nicht so, wie er wollte. Sonia Gandhi bremste seinen Reformkurs. Die trotz, oder möglicherweise gerade wegen ihres immensen Reichtums einem linken Sozialpopulismus zuneigende Kongresspräsidentin fürchtete den Vorwurf zu großer Wirtschaftsnähe. Sie sperrte sich gegen Privatisierungen, die Streichung von Subventionen und die weitere Marktöffnung für ausländische Investoren.
Singhs neue Reforminitiative
Auf einmal aber, als schon niemand mehr damit rechnete, dass vor der nächsten Wahl 2014 noch etwas geschieht, kündigte die indische Regierung im September ein ehrgeiziges Reformpaket an. Das erschütterte erst einmal die Regierung, ein kleiner Koalitionspartner verließ unter Protest das Kabinett.
Die konkreten Vereinbarungen der Reforminitiative
Die Beschlüsse:
Ausländische Investoren dürfen bis zu 49 Prozent an indischen Fluggesellschaften, Kabelnetzen und Strombörsen erwerben.
Ausländische Supermarktkonzerne wie Wal-Mart oder Carrefour dürfen bis zu 51 Prozent der Anteile im Einzelhandel besitzen. Das bezieht sich auf den sogenannten Multi Brand Retail – im Single Brand Retail sind schon jetzt 100 Prozent möglich.
Die Subventionen für Nahrungsmittel, Diesel und Haushaltsgas wurden gekürzt, um das staatliche Haushaltsdefizit zu kappen. Der staatliche Preis für Diesel stieg um 14 Prozent, Haushalte dürfen nur noch sechs Gaszylinder pro Familie zu reduziertem Preis kaufen. Aufgrund der hohen Subventionen geht nur ein Fünftel der staatlichen Kreditaufnahme in Wachstum generierende Investitionsprojekte.
Weitere Staatsunternehmen werden privatisiert. Auf der Verkaufsliste stehen unter anderem Hindustan Copper, National Thermal Power Corporation und National Aluminum Corp.
Sonia Gandhis Bekehrung
Die neue Reforminitiative hat auch mit einer Personalie zu tun. Als Finanzminister Mukherjee, ein Populist wie Sonia Gandhi, der nichts verändern wollte, im Mai sein Amt niederlegte, um Präsident zu werden, ergriff Singh die Chance. Er ernannte Palaniappan Chidambaram zu dessen Nachfolger. „Er ist ein Segen für das Land“, urteilt der in Delhi ansässige deutsche Wirtschaftsberater Dietrich Kebschull, der mit Chidambaram häufig zusammengetroffen ist. „Er hat alle Reformpläne für die zweite Reformrunde in der Schublade und ist mit Premierminister Singh auf einer Linie.“
Vor allem scheint es Singh gelungen zu sein, Sonia Gandhi ein wenig von ihrem Sozialpopulismus abzubringen. Beobachter registrierten im November erstaunt, dass sie auf einmal öffentlich positiv über ausländische Investoren sprach. Auf einer Veranstaltung in Delhi vor Tausenden von Kongress-Mitgliedern erklärte sie, dass ausländische Supermärkte in Indien Jobs schaffen und das Leben der Landbevölkerung verbessern würden. Gandhi wörtlich: „Das wird nicht nur unseren Bauer, sondern auch unserer Stadtbevölkerung und der Jugend helfen.“
Sonia Gandhis Bekehrung zu mehr Marktwirtschaft gelang Singh angeblich auf einer gemeinsamen Inspektionsreise zu Flutopfern in Nordindien statt. Dabei konnte er sie davon überzeugen, dass Indien sich nur mit Hilfe ausländischer Investoren die Sozialprogramme leisten könne, die sie für die arme Bevölkerung anstrebt.
Kursänderung dringend nötig
Die Wirtschaft des Landes läuft längst nicht mehr so gut wie noch vor wenigen Jahren. Das Wachstumstempo ist unter sechs Prozent gefallen – weit entfernt von den angestrebten acht bis neun Prozent. Die Handelsbilanz verzeichnet ein Rekorddefizit, die Inflation marschiert in Richtung acht Prozent, die höchste eines Bric-Landes. Der Staatshaushalt verharrt mit einem Minus von sechs Prozent des BIP in chronischem Defizit. Die Investitionen wachsen nur noch zögerlich. Die Rupie ist auf neue Tiefststände gefallen, was Rohstoffimporte verteuert und die Inflation anheizt. Die Ratingagentur Standard & Poor‘s drohte schon vor Monaten, Indiens Kreditrating auf Junkstatus runterzusetzen.
Ausländischen Direktinvestitionen fließen deshalb schon seit einiger Zeit spärlicher, wie die Unctad-Statistik zeigt (siehe Tabelle). Besonders im Vergleich mit China und Brasilien wird deutlich, dass internationale Investoren sich gegenüber Indien zurückhalten.
Indien fällt zurück
Zufluss an ausländischen Direktinvestitionen (in Milliarden Dollar)
| 2006 | 2007 | 2008 | 2009 | 2010 | 2011 |
China | 73 | 84 | 108 | 95 | 115 | 124 |
Brasilien | 19 | 35 | 45 | 26 | 49 | 67 |
Indien | 20 | 26 | 43 | 36 | 24 | 32 |
Quelle: Unctad
Regierung zunehmend handlungsunfähiger
Doch obwohl Indien zu seiner weiteren Entwicklung ausländische Investitionen braucht, hat die Opposition Widerstand gegen die Beschlüsse der Regierung angekündigt. Ich habe deshalb drei Experten mit langjähriger Indien-Erfahrung zu den Erfolgsaussichten der neuen Reforminitiative befragt: Zum einen den bereits zitierten Dietrich Kebschull, der das Business-Center von Schleswig-Holstein und Hamburg in Delhi leitet; dazu Klaus Maier von der Unternehmensberatung Maier + Vidorno sowie Johannes Wamser von der Unternehmensberatung Dr. Wamser + Batra - beide sind auf die Beratung deutscher Investoren in Indien spezialisiert.
Ihr Fazit fällt uneinheitlich aus. Dietrich Kebschull sieht Chancen für das Reformprogramm, weil die Regierung aufgrund der wenig erfreulichen Wirtschaftsindikatoren keine Alternative habe. "Sie muss die Probleme massiv angehen, um eine Chance zur Wiederwahl zu haben." Skeptischer urteilen die Unternehmensberater: Sie sehen vor der Wahl 2014 keinen Durchbruch mehr. "Die Regierung wird zunehmend handlungsunfähiger", meint Johannes Wamser, "es ist kaum vorhersehbar, wann welche Reformen kommen."
Dabei konzentriert sich der Widerstand weniger gegen die Entscheidung, den Markt für Fluggesellschaften, Kabelnetze und Strombörse für Minderheitsbeteiligungen von Ausländern zu öffnen. "Hier ist kein großes Interesse ausländischer Unternehmen erkennbar", beobachtet Klaus Maier. Sollte sich das aber ändern, sei mit massiver Gegenwehr der Gewerkschaften, insbesondere bei der staatlichen Air India, zu rechnen.
Uneinheitliches Fazit der Indien-Experten
Bei der Streichung der Subventionen ist die Regierung schon teilweise vor den Protesten eingeknickt. So wurde die Begrenzung des preisreduzierten Bezugs von Haushaltsgaszylindern von sechs auf neun pro Familie angehoben. Trotzdem ein kleiner Fortschritt: Vorher gab es hier nicht einmal ein Limit.
Widerstand konzentriert sich auf Einzelhandel
Umstritten ist vor allem die Öffnung des Einzelhandels. "Viele Inder fürchten um das Überleben ihrer kleinen lokalen Kirana Stores, die ihre Kunden persönlich beliefern und im Notfall auch anschreiben lassen", sagt Klaus Maier. Johannes Wamser sieht hier ein beträchtliches Mobilisierungspotenzial für die Opposition, weil die effizienten ausländischen Supermarktketten die Existenz Abertausender kleiner Ladenbesitzer und unzähliger Arbeitsplätze bedrohen.
Deshalb ist hier vermutlich nur ein "schöngefärbter Kompromiss" (Kebschull) wahrscheinlich. Ohnehin sieht der Regierungsbeschluss zahlreiche Einschränkungen vor. So ist die Öffnung des Einzelhandels für Ausländer an die Zustimmung der jeweiligen Bundesstaaten gebunden, in dem die Investition stattfinden soll. Zugestimmt haben bislang nur zehn von 28 Bundesstaaten, die auch von der Kongresspartei regiert werden, mit Ausnahme von Kerala. Der bevölkerungsreichste Bundesstaat Uttar Pradesh gehört genauso zu den Verweigerern wie das eigentlich wirtschaftsfreundlich geführte Gujarat.
Solche komplizierten Regelungen auf Ebene der Bundesstaaten machen es großen Konzernen schwer, in Indien Fuß zu fassen. Die deutsche Metro beispielsweise ist mit ihren Großmärkten schon seit einigen Jahren in Indien aktiv, hat aber die Expansion aufgrund von administrativen Einschränkungen gestoppt. So darf sie in etlichen Bundesstaaten keine Lebensmittel in ihr Produktprogramm aufnehmen.
Weiterhin ist die Öffnung des Einzelhandels beschränkt auf Städte mit mehr als einer Million Einwohner. Davon gibt es in Indien derzeit 53, aber nur 16 davon liegen in Bundesstaaten, die der Reform zustimmen. Ausländische Investoren müssen mindestens 100 Millionen Dollar investieren, davon die Hälfte in ländliche Regionen und mindestens die Hälfte in die dazugehörende Infrastruktur. Darunter versteht die Regierung nicht den eigentlichen Supermarkt, sondern Lebensmitteproduktion und -verarbeitung, Distribution, Qualitätskontrolle, Verpackung und Logistik.
Schließlich müssen die Supermärkte mindestens 30 Prozent ihrer Produkte bei klein- und mittelständischen indischen Unternehmen einkaufen. Und Online-Verkäufe bleiben Märkten unter ausländischem Mehrheit generell verboten, selbst im sogenannten Single-Brand-Handel.
Opposition nutzt Wal-Mart-Korruptionsuntersuchung
Doch der Opposition ist das noch nicht genug. Das zeigt sich jetzt im Parlament, das Ende November zu seiner Wintersitzungsperiode zusammengetroffen ist. Schon zuvor hatte sie alle Regierungsentscheidungen blockiert aufgrund schwerwiegender Korruptionsvorwürfe gegen Regierungsmitglieder.
Die ersten Parlamentssitzungen standen deshalb ganz im Zeichen der Opposition gegen die Einzelhandelsöffnung. Dabei bekam die Opposition unerwartet Schützenhilfe vom US-Händler Wal-Mart, der in Indien bereits in einem Joint-Venture mit einem einheimischen Konzern unter der Marke Bharti Walmart 18 Großmärkte betreibt. Wal-Mart möchte in Indien nun auch in den Einzelhandel einsteigen.
Das Problem: Wal-Mart musste soeben gegen einige Angestellte seiner indischen Joint-Venture-Tochter wegen Korruptionsvorfällen eine Untersuchung nach US-Recht einleiten. Eine willkommene Vorlage für die Opposition, die diese Fälle nun nutzt, um das Vorhaben der Regierung im Parlament zu torpedieren.
Dabei muss man wissen, dass Bestechungen im indischen Wirtschaftsleben üblich sind. Wer dort beispielsweise einen Laden eröffnen will, braucht mehr als 50 verschiedene Genehmigungen und Lizenzen. Kein Wunder, dass Unternehmen versucht sind, Behörden bei Blockaden mit Zuwendungen auf Trab zu bringen. Viele Regierungsangestellte nutzen nämlich ihre Machtposition systematisch, indem sie den Firmen drohen, ihre Anträge auf Eis zu legen, wenn nicht auch für sie etwas abfällt. Nicht unwahrscheinlich also, dass der indische Wal-Mart-Partner auch zu diesem Beschleunigungsmittel gegriffen hat, was dem Konzern in den USA nun eine Korruptionsuntersuchung eingebringt.
Ob nun auch die indische Regierung gegen Wal-Mart eine Untersuchungen einleitet, ist längst nicht sicher. Sicher ist nur, dass angesichts der politischen Störmanöver die Reformmaßnahmen kaum die von der Regierung erwarteten zehn Milliarden Dollar ausländischer Investitionen anlocken werden.