Krieg in der Ukraine „Was wir erleben, ist gefährlicher als der Kalte Krieg“

Keine Chance für Diplomatie: Putin nimmt schwere Verluste und sehr hohe Kosten auch für Russland selbst in Kauf. Quelle: imago images

Wirtschaftshistoriker Martin Schulze Wessel über die quasi-religiöse Selbstüberhöhung des russischen Diktators, dessen Pläne für eine neue Sowjetunion – und die geringe Verteidigungsfähigkeit Deutschlands.

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Martin Schulze Wessel ist Professor für die Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zur Zeit arbeitet er als Gastprofessor am St Antony's College der Universität Oxford.

WirtschaftsWoche: Herr Schulze Wessel, Sie haben sich als Wissenschaftler intensiv mit Osteuropa und russischer Geschichte beschäftigt. Haben Sie damit gerechnet, dass Russland nicht nur die Ostukraine besetzt, sondern das ganze Land attackiert?
Martin Schulze Wessel: Ja, ab einem gewissen Zeitpunkt. Die Ukraine ist für Wladimir Putins Weltmachtstreben unverzichtbar. Nur mit Belarus und vielleicht Kasachstan lässt sich keine neue Sowjetunion aufbauen. Putin hat schon im Juli 2021 einen Artikel über das Verhältnis von Russen und Ukrainern geschrieben, in dem er der Ukraine das Recht auf eine selbstbestimmte Nationalstaatlichkeit abgesprochen hat. Schon da zeigte sich eine neue - verstörende - geschichtsideologische Politiksicht Putins. Und auch eine große Konfliktbereitschaft.

Das heißt: Wir haben ihn politisch unterschätzt?
Zumindest hat der Westen geglaubt, Putin sei in seinem autokratischen Gebaren zwar gefährlich, aber berechenbar. Doch Putin ist ein Mann mit zwei Gesichtern. Den kühl kalkulierenden und alle Risiken abwägenden Machtpolitiker haben wir im Syrienkonflikt erlebt, beim Kurzkrieg gegen Georgien und auch bei der Annexion der Krim, die mit wenig Ressourcen und überschaubarem militärischen Einsatz möglich war. Jetzt ist alles anders. Jetzt nimmt Putin schwere Verluste und sehr hohe Kosten auch für Russland selbst in Kauf.

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Martin Schulze Wessel ist Professor für die Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München Quelle: Presse

Aber warum?
Was wir erleben, ist eine Sakralisierung der russischen Politik. Putin sieht sich selbst als historischen Akteur, der eine nationale Mission zu erfüllen hat. Das „Sammeln der russischen Erde“, also das Zurückholen verlorenen Territoriums, zieht sich als Narrativ schon durch die russische Zaren-Geschichte. Katharina II. rechtfertigte damit zum Beispiel die Teilung Polens. Putin hat die Krim von ihrer Bedeutung her mit dem Tempelberg in Jerusalem verglichen. Eine ähnlich quasi-religiöse Funktion weist er auch Kiew zu. Es geht dabei wohl nicht nur um die Instrumentalisierung von Geschichte. Putin scheint von seinen Wahrheiten wie besessen zu sein - und für rationale Argumente nicht mehr erreichbar.

Was sollte der Westen jetzt tun?
Man muss leider sagen, dass der Spielraum der westlichen Politik begrenzt ist. Putin wird nicht verhandeln. Jetzt kann es nur darum gehen, durch entschiedenes und einheitliches Auftreten russische Übergriffe auf weitere Staaten zu verhindern. Deutschland hat gegenüber der Zeit des Kalten Krieges relativ an Verteidigungsfähigkeit verloren. Es fehlt zudem in der Gesellschaft das Verständnis von wehrhafter Demokratie, die nicht nur nach innen, sondern auch nach außen wirkt. Das Thema der äußeren Sicherheit muss wieder stärker in den Fokus der deutschen Öffentlichkeit rücken. Und das wird es auch. Denn was wir derzeit erleben, ist gefährlicher als der alte Kalte Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg.

Könnte die russische Invasion in die Ukraine auch schnöde ökonomische Gründe haben? Immerhin ist die Ukraine einer der weltgrößten Weizenproduzenten und besitzt wertvolle Bodenschätze.
Ökonomische Gründe dürften beim Einmarsch eine nur untergeordnete Rolle spielen. Russland hat ja selbst riesige Anbauflächen. Allerdings könnte Russland über die Seehäfen Odessa und Mariupol die ukrainischen Exporte auf dem Seeweg abschneiden oder kontrollieren.

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