Krise im Irak „Ein Engagement der Nato ist nicht ausgeschlossen“

Irak vor dem Bürgerkrieg: Dschihadisten nehmen Städte ein, Kurden verweigern Bagdad die Gefolgschaft. Conrad Schetter vom Bonner Internationalen Konversionszentrum (BICC) erklärt, was das für unsere Sicherheit bedeutet.

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Sunnitische Kämpfer im Irak: „Ein Besatzungsregime durch die USA hat Fundamentalisten magnetisch angezogen“. Quelle: dpa

Düsseldorf Herr Schetter, am Dienstag haben die Isis-Kämpfer die nordirakische Stadt Mossul innerhalb kurzer Zeit eingenommen und rücken immer weiter Richtung Bagdad vor. Im Dezember 2011 wurden die letzten ausländischen Truppen abgezogen. Müssen die Amerikaner jetzt dennoch wieder eingreifen?
Conrad Schetter: Seit türkische Diplomaten und Bürger gekidnappt worden sind, hat der Konflikt eine ganz neue Qualität bekommen. Ein direktes Engagement der Nato in dem Konflikt ist nicht ausgeschlossen. Die Türkei kann hier an die Nato-Bündnispflicht für einen Verteidigungsfall appellieren. Wenn die Lage weiter eskaliert, könnte eine Intervention unvermeidlich sein. Dies würde dann auch die Bundeswehr betreffen.

Der Sprecher der Isis-Terrorgruppe hat bereits mit weiteren Schlachten in Bagdad und Kerbala gedroht. Wie gefährlich ist Isis?
Im letzten Jahr haben sich die Isis-Kämpfer enorm schnell ausgebreitet. Zuvor galten die sunnitisch beherrschten Territorien als Vorzeigeregionen, wo die Strategie der Amerikaner, über Milizen Sicherheit zu schaffen, tatsächlich zu funktionieren schien. Isis verfügt über beträchtliche logistische Ressourcen und schreckt aufgrund ihrer fundamentalistischen Ideologie auch nicht vor einem besonders radikalen Vorgehen zurück. Ihr Hauptziel liegt darin, einen Scharia-Staat in Syrien und dem Irak aufzubauen.

War der Abzug der Amerikaner zu früh?
Die Intervention im Irak war von Beginn an problematisch. Der zentrale Fehler der USA war, dass sie funktionierende Machtstrukturen zerstört haben. Sie haben die komplexe Konfliktsituation nie verstanden. Eine noch längere Präsenz der Amerikaner hätte dem Irak aber auch nicht weitergeholfen. Sie wären von den verschiedenen Gruppierungen weiter als Feind bekämpft worden. Ein Besatzungsregime durch die USA hat Fundamentalisten magnetisch angezogen.

Ist die Politik der Amerikaner somit vollständig gescheitert?
Absolut. Eine Demokratie im Irak aufzubauen, war von Anfang an ein gewagtes Experiment. Alle Sicherheitsanstrengungen – von der Stationierung von circa 300.000 Soldaten bis hin zur Bewaffnung von Milizen – wurden der Situation vor Ort nicht gerecht.


„Die Türkei ist enorm bedroht“

Welche Auswirkungen hat diese momentane Eskalation auf den Bürgerkrieg in Syrien?
Isis stellt für die ganze Region eine Gefahr dar. Irak und Syrien gehörten ursprünglich zusammen. Die jetzigen Grenzen wurden nach dem Ersten Weltkrieg am Reißbrett festgelegt, diese Situation kann Isis ausnutzen. Gleichzeitig haben sich sowohl in Syrien als auch im Irak moderne Gesellschaften entwickelt, die westlich geprägt sind. Diese Lebensauffassung prallt derzeit auf die fundamentalistische Ideologie der Isis. Diese Faktoren führen zu einem hochexplosiven Stoff für Konflikte.

Hat der Angriff von Isis Konsequenzen auf die Abzugspläne der Amerikaner in Afghanistan?
Die Sorge, dass radikale Kräfte in der Region erstarken, betrifft auch Afghanistan. Die dortige Regierung sitzt nicht fest im Sattel und auch die afghanischen Sicherheitskräfte sind ziemlich schwach aufgestellt. Die Taliban sind im Osten und Süden des Landes sehr stark und haben Zellen im ganzen Land. Um Parallelen zum Irak zu vermeiden, ist es daher wahrscheinlich, dass die Amerikaner einzelne Stützpunkte mit insgesamt 5.000 bis 10.000 Soldaten langfristig aufrechterhalten, um damit sowie mit Drohneneinsätzen aufkeimende Terror-Aktivitäten eindämmen zu können.

Hat die ausbreitende und eskalierende Gewalt in Nahost auch Auswirkungen auf unsere Sicherheit?
Natürlich. In der Türkei gärt es. Die Türkei ist in direkter Nachbarschaft zum Irak und Syrien enorm bedroht. Es gab in den vergangenen Monaten in der Türkei bereits einzelne Attentate durch islamistische Extremisten. Dazu kommt jetzt die Entführung der türkischen Diplomaten.

Der Präsident Nuri al-Maliki hat angekündigt den Notstand im Irak auszurufen. Wie geht es dort weiter?
Der Irak ist ein Kunstprodukt. Es gibt so viele überlappende Konflikte: zwischen den Kurden, den Islamisten, den Sunniten und Schiiten. Für Maliki ist es daher enorm schwer, eine nationale Einheit zu schaffen. Im Norden sind die Islamisten bereits sehr stark. Kurz- und mittelfristig ist der Zerfall in verschiedene Machtbereiche wahrscheinlich. Maliki könnte zum Bürgermeister von Bagdad degradiert werden. Der Irak steht vor einem nationalen Staatsbildungsprozess, der noch Jahrzehnte dauern wird.

Conrad Schetter ist Wissenschaftlicher Direktor des BICC (Internationales Konversionszentrum Bonn) und Mitautor des „Friedensgutachten 2014“ („Afghanistan – von der Bürgerkriegs- zur Interventionsruine“).

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