Krise in Brasilien Proteste statt olympische Vorfreude

Von Vorfreude auf die Olympischen Spiele ist in Rio de Janeiro keine Spur. Top-Thema ist die Wirtschaftskrise. Die Menschen protestieren gegen den Übergangspräsidenten, der nun womöglich Staatsfirmen privatisieren will.

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In Sao Paulo gingen am Wochenende Tausende Demonstranten gegen Übergangspräsident Michel Temer auf die Straße. Quelle: dpa

São Paulo Noch 81 Tage sind es bis zum Beginn der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro. Doch das interessiert derzeit kaum jemanden in Brasilien angesichts der schweren Krise des Landes in der Wirtschaft und Politik. Auch der Zika-Virus oder die zunehmende Kriminalität beschäftigen die Bevölkerung mehr als die Frage, ob die Wildwasserbahn für die Kanufahrer fristgerecht fertig wird. Als kürzlich die Trasse einer Fahrradstrecke in Rio de Janeiro ins Meer stürzte und dabei zwei Passanten getötet wurden, schenkte die Öffentlichkeit den Olympia-Vorbereitungen mal wieder kurz Aufmerksamkeit. Wendete sich aber schnell wieder drängenderen Problemen zu.

Es hätte alles ganz anders kommen sollen. Als Brasilien zum Gastgeber der Fußballweltmeisterschaft 2014 ausgewählt wurde und dann noch Rio de Janeiro die Olympischen 2016 zugesprochen bekam – da hofften die Brasilianer darauf, der Welt ein modernes, erfolgreiches und wohlhabendes Land zu präsentieren. Doch jetzt ist nicht mal sicher, wer die Spiele am 5. August eröffnen wird. Gerade wurde die Präsidentin Dilma Rousseff vom Senat ihres Amtes enthoben, ihr Vize Michel Temer ist nachgerückt. Doch die Amtsenthebung muss erst noch von Senat bestätigt werden – in maximal einem halben Jahr. Bis dahin ist der 75-jährige Temer nur Interimspräsident.

Ob ihm der Neuanfang nach fünfeinhalb Jahren Regierung seiner Vorgängerin gelingt, bezweifeln viele Brasilianer: Seine zwei Dutzend Minister erinnern sie unangenehm an das alte, rückständige Brasilien –genauso wollte man sich nicht der Welt nicht präsentieren. Es sind ausschließlich Männer gehobenen Alters und weißer Hautfarbe. Keine Frau, kein Vertreter der Afro-Brasilianer oder der indigenen Urbevölkerung befindet sich darunter. Die Stelle des Kulturministers wurde genauso gestrichen wie die der Gleichstellungbeauftragten oder des Sekretariats für Menschenrechte.

Am Sonntagabend haben zahlreiche Menschen in Brasilien mit sogenannten Panelaços gegen den Übergangspräsidenten Michel Temer protestiert. In mehreren Großstädten schlugen sie auf Töpfe ein und skandierten „Hau ab, Temer“, während der neue Staatschef ein Fernsehinterview gab. Temer kündigte im Sender TV Globo an, sich 2018 nicht zur Wahl zu stellen. Das ermögliche ihm, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen.

Mit seinem Kabinett will Temer zeigen, dass er zuerst in der eigenen Regierung und im aufgeblähten Staatsapparat den Gürtel enger schnallt, bevor er der Bevölkerung ein hartes Sparprogram zumutet. Er will die Arbeitslosigkeit verringern und in Politik und Wirtschaft wieder Ruhe herstellen. Die Regierung werde Ausgaben dort, wo es möglich sei, kürzen und das Rentensystem reformieren, sagte Temer am Sonntag in einem Fernsehinterview. Sozialprogramme, die in der seit 13 Jahren dauernden Regierungszeit der Arbeitspartei aufgelegt wurden, seien davon nicht betroffen, bekräftigte Temer im Sender Globo.


Staatsanteile unter dem Hammer?

Brasiliens Verschuldung ist unter Dilma Rousseff rasant angewachsen. Die Zinsen sind die höchsten der Welt. Niemand investiert in Brasilien, niemand konsumiert: 40 Prozent aller erwachsenen Brasilianer können ihre Schulden nicht bezahlen. Die Arbeitslosigkeit steigt. Temer weiß, er hat nur eine Chance: Wenn er die Abwärtsspirale in der Wirtschaft stoppen kann und die Unternehmen dazu bekommt, wieder zu investieren. Einem Zeitungsbericht zufolge prüft Temer auch den Verkauf von Anteilen an staatlich kontrollierten Firmen wie der Post, Energieversorgern und Versicherern.

Damit sollten Geld in die Staatskasse gespült und der öffentliche Sektor verschlankt werden, berichtete „O Globo“ aus Rio de Janeiro am Sonntag unter Berufung auf nicht namentlich genannte Mitglieder des Wirtschaftsteams des Übergangspräsidenten. Das Finanzministerium wollte den Bericht nicht kommentieren. Finanzminister Henrique Meirelles werde sich in den kommenden Tagen zu den Plänen der Regierung äußern, sagte eine Sprecherin lediglich.

Der Zeitung zufolge sollen Anteile der Post Correios, der Münzanstalt Casa de Moeda und des zum Geldinstitut Caxa Economica Federal gehörenden Versicherers abgestoßen werden. Ins Auge gefasst seien zudem mehrere Hafenbetreiber im ganzen Land und der Flughafenbetreiber Infraero. Der Verkauf von Staatsanteilen war schon in den 1990er Jahren und Anfang der 2000er Jahre ein häufig gewähltes Mittel. Die Staatsoberhäupter von der Arbeiterpartei, Luiz Inacio Lula da Silva und Dilma Rousseff hatten diese Praxis beendet.

Die wegen Haushaltsmanipulation ihres Amtes enthobene Präsidentin Dilma Rousseff, muss derweil an ihrer Verteidigung arbeiten. In spätestens 180 Tagen muss der Senat ihre endgültige Absetzung mit einer Zweidrittelmehrheit bestätigen. Ihre Chancen wieder ins Amt zu kommen sind gering. Es sei denn, der Interims-Präsident Michel Temer verliert ebenfalls noch sein Amt. Der Oberste Gerichtshof muss entscheiden, ob auch gegen ihn ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet werden soll, da er an den Manipulationen beteiligt war. Auch in den Korruptionsskandal um den Staatskonzern Petrobras sind Minister Temers verwickelt, möglicherweise auch er selbst.

Die Brasilianer hoffen, dass Temer nun nicht wie seine Vorgängerin vor allem mit seinem Machterhalt beschäftig sein wird und das Land führungslos immer weiter in die Krise treiben lässt. Die Brasilianer sind der Politik müde: Zunehmend nervt sie, dass die Politiker in Brasília sich seit vielen Monaten nur noch mit sich beschäftigen.

Ein Problem weniger hat Rousseff nun dank ihrer Amtsenthebung: Sie muss sich nicht mehr überlegen, ob und wie sie die Olympischen Spiele am 5. August eröffnen soll – ohne ein minutenlanges, gellendes Pfeifkonzert zu riskieren, wie bei der Fußballweltmeisterschaft vor zwei Jahren. Darüber kann sich nun Michel Temer den Kopf zerbrechen.

Mit Reuters und dpa

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