Krise – welche Krise? Argentinien, der unverbesserliche Serien-Bittsteller

Ein Mann lässt sich in Buenos Aires die Schuhe putzen, während im Hintergrund Demonstranten gegen die Sparmaßnahmen der Regierung protestieren. Quelle: Reuters

26 Mal hat Argentinien seit den Achtzigerjahren mit dem IWF über Kredite verhandelt. Jetzt ist Revision Nummer 27 dran. Für die Menschen dort ist das längst normal. Ein Rundgang durch die Straßen von Buenos Aires.

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Pedro Moreno hat eine professionelle Stimme und eine private. Die Berufsstimme braucht er für seinen Job als informeller Geldwechsler auf der Calle Florida, der Fußgängerzone im Geschäftszentrum von Buenos Aires. „Cambio, Cambio“ presst er dann in einem Falsett heraus, dass es alle Passanten in einem Umkreis von 40 Metern hören. Das garantiert die Aufmerksamkeit der Touristen, vor allem aus Brasilien. Pedro hebt sich damit deutlich von seinen Konkurrenten in der Einkaufsmeile ab, die ihre besten Jahre lange hinter sich hat. Die zischeln, raunen oder flüstern den Passanten ihre Tauschangebote zu.

Doch dieser Tage braucht Moreno sein Falsett kaum. Die Konkurrenz ist ausgedünnt. Bei diesen verrückten Wechselkurssprüngen der letzten Tage sei der Geldhandel erlahmt, erklärt er, 32 Jahre alt, Jogginganzug, Sonnenbrille, mit seiner leisen, der privaten Stimme. Wer Dollar habe, wolle sie nicht verkaufen, weil jeder auf weitere Abwertungen hoffe. Im August alleine hat der Peso rund 50 Prozent an Wert verloren. Nur Touristen würden tauschen, für ein paar Einkäufe. Wenn jemand mehr als 100 Dollar wechseln wolle, müsste er erst bei der Chefin nachfragen, zu welchem Kurs. Der ändere sich stündlich.

Moreno gähnt gelangweilt. Krise? Sicher, Argentinien stecke mal wieder in der Krise, wiederholt er höflich. Als sei das ja nun wirklich nichts Neues. Der dramatische Blut-Schweiß-und-Tränen-Apell von Präsident Mauricio Macri am vergangenen Montagmorgen. Der Finanzminister, der jetzt in Washington mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) um neuen Kredit verhandelt. Die Investmentbanken weltweit, die vor einer neuen Emerging-Market-Krise warnen – das ist für Moreno wie für die meisten Argentinier mehr oder weniger Normalität. 26 Mal hat Argentinien seit den Achtzigerjahren mit dem Fonds verhandelt. Jetzt ist eben Revision Nummer 27 dran.

Ein paar hundert Meter weiter putzt der 40-jährige Esteban Acosta Schuhe auf der Straße. Im Pullunder über seinem gebügelten Karohemd, denn es ist kühl im winterlichen Buenos Aires. Seit 13 Jahren arbeitet er hier. Von morgens neun bis nachmittags um 17 Uhr, wenn es nicht regnet. Er stammt aus Salta, an der Grenze zu Bolivien, und verlangt 60 Pesos, also umgerechnet 1,50 Dollar fürs Schuheputzen. „Krise, welche Krise?“ fragt er erstaunt und lässt die Bürste sinken. Er hätte täglich jahrein, jahraus etwa ein Dutzend Kunden, aus den Ministerien, den Banken, der Börse. Die würden in der letzten Zeit öfters über die Krise reden, aber ihn betreffe das ja nicht. Er müsse jetzt aber bald die Tarife anheben. Der Dollar, die Produkte würden teurer. Er zeigt auf die Schuhcremes, die Pferdehaarbesen, die Schnürsenkel – alles nationale Produkte, also eigentlich nicht dollarabhängig. In normalen Zeiten würde er alle drei Monate die Preise erhöhen, seit Juni monatlich, möglicherweise bald einmal die Woche. Er warte aber noch ab.

„Ich verstehe es nicht“, sagt Daniel Gonzalez, 40, Manager des Gym „Rockcycle“, direkt neben Schuhputzer Acosta und dem italienischen Konsulat, vor dem sich eine kleine Schlange von Antragstellern für Visaanträge gebildet hat. Von Krise sei nichts zu spüren, im Gegenteil. Sie seien eine teure Akademie, aber in den letzten Tagen hätten mehrere Kunden sogar noch Jahresabos abgeschlossen, immerhin für umgerechnet 600 Dollar. Die Kurse zur Mittagszeit und in der Rushhour nach 17 Uhr seien fast ausgebucht.

Das erstaunt: Denn wegen des Leitzinses, den die Zentralbank jetzt auf 60 Prozent angehoben hat, rutscht Argentinien gerade in die Rezession. Um fünf Prozent werde der Konsum im zweiten Semester einbrechen, prognostizieren die Ökonomen. Die Inflation bewegt sich derzeit auf 40 Prozent zu.

Er habe nebenbei noch einen Frisörsalon – auch dort würde er keinen Einbruch erleben. Vielleicht liegt es daran, dass die Leute jetzt weniger reisen können wegen des teuren Dollars. Oder sie wollen ihr Geld vor der Inflation schützen und investieren lieber in ihr Aussehen – er wisse es nicht, sagt Gonzalez.

Sie würden täglich im Zentrum den Abfall durchsuchen, erklärt Emisilda Ruiz-Diaz, 59 Jahre, gepflegt gekleidet, mit einem Kreuz um den Hals. Die achtjährige Enkeltochter hat sie in den Müllcontainer reingestellt, damit sie ihn durchwühlt. Der fünfjährige Enkel ist nebendran schon fündig geworden: Er hat zwischen Pizzaresten und Kartonnage eine Druckerkassette gefunden – und will sie nicht mehr hergeben. Mutter, Tante, Oma und Schwester lachen über den wütenden Kerl, der mit der Kassette unterm Arm wegrennen will. Sie suchen vor allem nach Kupfer – in Kabeln, Elektrogeräten. Das ließe sich sofort zu Cash machen. Neben den beiden Töchtern, die mit ihr durch das Zentrum ziehen, habe sie fünf weitere.

Ihr Mann falle aus. Alkoholkrank. Ruiz-Diaz wohnt in Quilmes, der südlichen Peripherie von Buenos Aires. Sie habe immer als Putzfrau gearbeitet. Aber auch die Bessergestellten könnten sich das nicht mehr leisten, erklärt sie entschuldigend. Sie bekämen staatliche Hilfen. Die würden im Prinzip auch ausreichen. Aber sie und ihre Töchter hätten keine Jobs und nichts zu tun. Und die Sozialzuschüsse würden bald gesenkt werden, wirft ihre Tochter ein, die Mutter der beiden Töchter. Sie hat sich wie für einen Disco-Auftritt geschminkt und zurechtgemacht. „Mami schau!“ ruft die Enkelin stolz und schiebt ein gipsverklebtes Kabelbündel aus der Klappe des Containers heraus. Gut gelaunt zieht die Familiengruppe weiter.

Das Sozialbudget will Präsident Macri trotz des jüngsten Sparprogramms nicht antasten. Von den 45 Millionen Argentiniern ist ein Drittel arm. 40 Prozent erhalten staatliche Unterstützung. Soziale Unruhen will der Unternehmer als Präsident vermeiden. Er hat keine Mehrheit im Kongress, muss Zugeständnisse an die Peronisten machen, wenn er etwas bewegen will. Die Gewerkschaften haben zu einem Generalstreik für den 23. September ausgerufen.

Um die Ecke von Emisilda Ruiz-Diaz' Müllcontainer streiken bereits ein paar hundert Angestellte des Gesundheitsministeriums wegen der geplanten Kürzungen. Sie werfen Knallkörper, die zwischen den engen Fassaden ohrenbetäubend explodieren. Sie protestieren nicht, skandieren keine Parolen. Man kennt sich, umarmt sich, es wirkt wie ein großer Kegelclub auf Ausflug.

„Vorsicht, wir sind die Skeptiker“, sagt einer der drei älteren Herren, die in der heruntergekommenen 1970er-Jahre-Börse vor Bildschirmen die Kurse beobachten. In den Handelsraum kann man reinschlendern und sich zu den Händlern gesellen. Es gibt kaum Kontrollen. Einige Rentner nutzen die Tribüne um das Parkett herum auch für die Zeitungslektüre oder ein frühes Nickerchen. Als Toro, Jorge und Gustavo stellen sie sich die Börsenmakler vor. Gemeinsam schlürfen sie reihum Mate aus einer Kalebasse. Toro trägt einen Jogging-Anzug. Gustavo hängt das Hemd aus der Hose. Er überreicht eine Business-Card, die ihn als CFO von Helvetia Banquiers Privés in Argentinien ausweist. Jorge fläzt sich gut gelaunt auf dem erhöhten Hocker und führt das Wort.

Bei der Frage, ob es Macri gelingen könnte, den Karren wieder zum Laufen zu bringen, schauen sie sich belustigt an. Nein, auf keinen Fall. Der würde den nächsten Zahlungsstopp auf die Schulden nur herauszögern. Mit dem neuen Kredit aus Washington würde er ein paar Monate Zeit gewinnen. Es sei doch in Argentinien noch nie anders gewesen: Der Staat gebe zu viel aus. Das Defizit finanziere er mit Schulden. Bis die Gläubiger sagen: Schluss. Dann käme der Default. Argentinien sei ein unverbesserlicher Serien-Bittsteller. Es sei doch absurd, dass Macri Kredit aufgenommen habe, um damit laufende Ausgaben zu bezahlen. Wer ihm das abgenommen habe? Das könne man doch nicht mal einem Ökonomie-Studenten im ersten Semester weismachen.

Natürlich liefen die Geschäfte jetzt wieder mal richtig gut. Diese Ausschläge bei den Aktienkursen, der rasant schwankende Peso – damit würde man auf Argentiniens Finanzmärkten Geld verdienen. Bei so ruhigen Börsen und stabilen Märkten wie in Europa, da bliebe uns nichts anderes übrig als Taxifahren, schließen die Herren – und wenden sich wieder ihren Geschäften zu.

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