Lesestoff Wie Amerika für Trump reif wurde

Das Buch der Stunde hat George Packer bereits vor drei Jahren geschrieben. Wer den Triumph von Trump verstehen will, kommt an dem großen Protokoll über die Selbstabwicklung Amerikas nicht vorbei.

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Amerikas Albtraum. Quelle: Getty Images

Als Barack Obama Ende 2008 den Amerikanern ein wenig Hoffnung schenkte, hatte George Packer sie gerade verloren. Packer war wenige Wochen zuvor im Irak gewesen und stand unter dem Eindruck, „dass Amerika die großen Dinge nicht mehr gelingen“. Er dachte an die dicken, wohlstandssatten Zivilsoldaten, die in der umzäunten Parallelwelt des Militärcamps Hamburger verzehrten. Er sah im Fernsehen, wie die Investmentbanker von Lehman Brothers in New York ihre Kartons packten. Und er fragte sich, warum „wir einfach nicht mehr so gut sind, wie wir mal waren“.

George Packers

Und Packer fragte weiter: Weshalb so viele Amerikaner sich verschuldet hatten. Wo mit der industriellen Basis die arbeitende Mittelklasse geblieben war. Warum die Kirchen, die Gewerkschaften und die Zeitungen den Zerfall der amerikanischen Gesellschaft nicht aufgehalten hatten. Weshalb die Eliten in Washington, New York und im Silicon Valley ihren eigenen Prosperitätslegenden auf den Leim gingen. Und wie es Banken und Kreditinstituten gelingen konnte, im Weißen Haus und im Kongress die Gesetze zu schreiben. Es war der Moment, an dem George Packer beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.

Das Ergebnis seiner Recherchen heißt „Die Abwicklung“: ein niederschmetternd beeindruckendes Meisterwerk journalistischer Mikrosoziologie, das die Selbstabwicklung der USA seit 35 Jahren verhandelt. Packers Figuren sind weder Sympathieträger noch Bösewichte, am ehesten wohl „typische Amerikaner“, ausgestattet mit einem gründlichen Misstrauen in den Staat und seine Hilfsangebote – und mit einem Optimismus, der jedes Hinfallen als Chance zum Aufstehen begreift.

Packer lässt keinen Zweifel daran, dass er diesen Optimismus als eine mentale Ressource begreift, die er für restlos erschöpft hält. Dazu erzählt er beispielsweise von Oprah Winfrey, die die „You can do it“-Euphorie in ihren TV-Shows zur perversen Religion erhob. Die ihren Zuschauern so penetrant Eigenverantwortung und Selbstertüchtigung einbläute, bis jeder entlassene Ford-Arbeitnehmer zuletzt dankbar war, künftig fürs halbe Geld Big Macs verkaufen zu dürfen.

Oder vom republikanischen Kongressabgeordneten Newt Gingrich, der 20 Jahre vor Trump eine neue Tonlage in die Politik brachte. Der vom „korrupten Sozialstaat“ sprach und vom „totalen Krieg“ gegen die Bürokratie. Der Diskussionen radikal entsachlichte und Präsident Bill Clinton einen „Feind der normalen Amerikaner“ nannte. Der für Emotionen und Gesinnungen, nicht für Argumente und Gründe gewählt werden und bei strittigen Fragen als „Sieger“ vom Platz gehen wollte.

Oder von reichen Selbstisolationisten wie Peter Thiel, der im Silicon Valley als Unternehmer mit PayPal und als Venture-Kapitalist mit Facebook sein Vermögen machte – und als rastloser Weltverbesserer libertären Träumen staatenloser Inselgemeinden nachhängt, weil er Partizipation und Mitsprache dem Kapitalismus für abträglich hält.

Materielle und mentale Selbstverarmung

Und so fächert Packer Kapitel für Kapitel auf, warum die USA auf die schiefe Bahn gerieten und das Vertrauen ihrer Bürger verloren. Die astronomischen Managergehälter und die Ausweitung des Niedriglohnsektors etwa sind für ihn keine unveränderlichen Begleiterscheinungen des technischen Fortschritts und globalen Wettbewerbs, keine anonymen, zwangsläufigen Folgen von Produktivitätssteigerungen und international konkurrierenden Arbeitsmärkten. Sondern die Folge von höchst willentlich durchgesetzten Partikularinteressen (des Washington-Wall-Street-Komplexes) – und eines Elitendiskurses, der zu allem Überfluss auch noch so zynisch oder dumm war, gegen soziale Zerfallserscheinungen das Mentalitätsregime des empowerment in Stellung zu bringen.

Anders gesagt: „Der amerikanische Traum“ ist in den vergangenen vier Jahrzehnten nicht von Zuwanderern, Antriebsarmen und Leistungsunwilligen zerstört worden, sondern von denen, die sich zur Durchsetzung ihrer macht- und geldkonzentrierenden Ziele besonders gern und lautstark auf ihn berufen haben. Niedrigsteuern für Reiche haben das gesellschaftliche Band zerrissen. Die Zurüstung eines Heeres von Geringverdienern hat der Arbeit ihren Wert geraubt – und den Arbeitern ihre Würde. Und die verlogene, daher von Republikanern und Tea-Party-Ideologen rhetorisch immer schärfer gestellte Doppelideologie des antisozialistischen Staatshasses und einer segensreichen trickle-down-economy haben die Grundlagen und die Institutionen einer funktionalen Markt-Wirtschaft zerstört.

Die Ertüchtigungsrhetorik des „amerikanischen Traumes“ aber ist im Schatten dieser Entwicklungen nicht nur zu einer erbärmlichen Regierungstechnik verarmt, sondern auch zur verinnerlichten Zwangsvorstellung der Verlierer: „Sie verachten ihre eigene Abhängigkeit“, schreibt George Packer. Im land of opportunity würden nicht Investmentbanker und Walmart-Milliardäre dafür verachtet, reich zu sein. Vielmehr würden die Armen beschuldigt, arm zu sein. Auch dagegen, so darf man schlussfolgern, sind die Amerikaner am Dienstag aufgestanden.

Kurzum: Der Trump-Triumph ist das bedrückende Ergebnis und (vorläufige) Ende einer materiellen und mentalen Selbstverarmung. Packer exemplifiziert sie an Sam Walton, dem 1992 verstorbenen Gründer und Leiter der Supermarktkette Walmart, dessen Erfolgsformel lautete: „Buy low, sell cheap, high volume, fast turn.“ Treffender lässt sich vielleicht nicht ausdrücken, was die Vereinigten Staaten in den vergangenen 35 Jahren erlebt haben: die Totalisierung einer lukrativen Geschäfts- zur billigen Gesellschaftsphilosophie. „Über die Jahre ist Amerika immer mehr wie Walmart geworden“, schreibt Packer: „Es ist billig geworden. Die Preise sanken, die Löhne auch. Die kleinen Städte wurden ärmer, und die Menschen mussten bei Walmart einkaufen – und vielleicht auch dort arbeiten.“

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