Libyen Analyse eines Landes ohne Staat

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Libyens Problem ist das Problem der gesamten islamischen Zivilisation

Dieser 1951 entstandene nominelle Staat war eine Monarchie. Der religiös-tribale Führer Idris vom dem als Orden organisierten Stamm der Sanousi avancierte im Einvernehmen mit der westlich dominierten internationalen Gemeinschaft zum König. Im Jahre 1969 putschte gegen ihn ein Oberst namens Qadhafi, der für seine komödiantischen Eigenarten später Weltruhm erlangte. Seine Herrschaft dauerte bis zum Arabischen Frühling 2011. Nach der Ermordung Qadhafis in Sirte 2011 löste sich der libysche Staat auf. Heute hat in Libyen jeder Stamm seine schwer bewaffnete eigene Miliz. Diese Milizen finanzieren sich durch den Menschenschmuggel nach Europa.

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Auch unter Qadhafi war Libyen ein Transitland für den Schmuggel von Afrikanern nach Italien - mit Zustimmung des Diktators, der dies erfolgreich als Erpressungsinstrument gegen die EU einsetzte. Es ist beschämend, dass die EU diesen Erpressungen stets nachgab. Bis 2011 stand der Menschenschmuggel unter der Kontrolle Qadhafis, war also noch steuerbar und hielt sich in Grenzen. Seit der Auflösung der Staatsmacht ist er außer Kontrolle geraten; niemand weiß heute, wie groß die Zahl der Organisatoren ist – Hunderte oder Tausende.

Libyen im historischen Lichte von Islam und Stammeskultur: Kulturelle Unterentwicklung

Zum Irrsinn der politischen Korrektheit, die die wichtigste Errungenschaft Europas, nämlich die Denk- und Wissenschaftsfreiheit, abschafft, gehört der Maulkorb, der mit dem Vorwurf der „Islamophobie“ und des Rassismus verbunden ist. Islam-Kritik sowie Kritik an kultureller Unterentwicklung werden mit Rechtspopulismus gleichgesetzt. Diese politische Kultur der Unfreiheit betrifft auch unser Thema des Staatszerfalls in Libyen. Denn wenn man kulturelle Faktoren zur Erklärung für ein Phänomen anführt, dann wird dies mit der Rassismus-Keule verfemt und Kritiker zum Schweigen gebracht.

Die heutige Misere in Libyen und im Rest der arabisch-islamischen Welt hat mit kulturellen Faktoren der Unterentwicklung zu tun. Ich verweise auf das amerikanische „The Culture Matters Research Project/ CMRP“ an der Fletcher School of Law and International Diplomacy, aus dem 2006 zwei Bücher über kulturelle Unterentwicklung - „Developing Cultures“ - hervorgegangen sind. Ich war dabei zuständig für die islamische Zivilisation. Wer das Reden über kulturelle Unterentwicklung unterbindet, verschließt den Weg für eine fundierte Erklärung der Situation in Libyen, von der die EU erheblich betroffen ist.

Das zentrale Problem Libyens ist das Problem der gesamten islamischen Zivilisation, nämlich das Verhältnis von Staat, staatlicher Ordnung und Stämmen. Der Prophet Mohammed hatte im Jahr 622 in Medina nicht einen Staat, sondern ein Gemeinwesen namens Umma gegründet. Diese Umma nannte der schottische Islamwissenschaftler W.M. Watt „federation of Arab tribes“, eine „Föderation der arabischen Stämme“. Ähnliches haben König Idris al-Sanousi und dann Qadhafi versucht. Sie wollten die Stämme vereinigen zu einem libyschen Volk. Das hat aber in beiden Fällen nicht funktioniert, weil die Führung der nicht neutral war. Unter Idris war dies der Stamm der Sanousi und unter Qadhafi der Stamm der Qadadfa. Und so war es 622 in den Zeiten des Propheten Mohammed, der aus dem Stamm der Quraisch kam. Nach seinem Tod 632 musste ein Kalif, das heißt ein Nachfolger für Mohammed, bestimmt werden, der aus dem Stamm der Quraisch stammte.

Der aufmerksame Leser ist herausgefordert, diesen Widerspruch zu verstehen: Bei der Schaffung der islamischen Umma als „Föderation der arabischen Stämme“ sollte das Stammesdenken abgeschafft werden, jedoch ist dieses Ziel unter der Führung eines Stammes – der Quraisch – verfolgt worden. Dasselbe passierte in Libyen: König Idris bzw. der ihn stürzende Qadhafi wollten die Stämme zu einem libyschen Volk einen, jedoch unter der Herrschaft des eigenen Stammes. Wie kann man Stämme unter der Führung eines Stammes vereinen? Diese Frage spricht die substanzielle Problematik des Islam in einer Stammeskultur an. In dem oben zitierten MIT-Harvard-Projekt „Tribes and State Formation“ haben wir diesen Widerspruch beleuchtet.

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