Libyen Analyse eines Landes ohne Staat

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Paradebeispiel für die Personifizierung der Staatsmacht

Das bis heute anhaltende Problem der islamischen Zivilisation ist, wie staatliche Ordnung bei religiöser und tribaler Vielfalt gegründet und erhalten werden kann. Der wichtigste islamische Denker des schriftgläubigen Islam (im Gegensatz zum Aufklärungs-Islam von Ibn Ruschd), nämlich Ibn Taymiyya (1263-1328) hatte das Problem in seinem Buch „al-siyasah al-schariyya“ mit folgender Erkenntnis beschrieben: „Die sechzigjährige Herrschaft eines ungerechten Imam ist besser als eine einzige Nacht ohne einen Sultan“. Ohne Sultan gibt es nur Anarchie und Unordnung; deswegen beschrieb er den Sultan als „Schatten Allahs auf Erden“. Wenn dieser verschwunden ist, gibt es nichts als Chaos. Genau dies ist heute in Libyen der Fall.

Von 1969 bis 2011 hat es Muhammad al-Qaddhafi geschafft, Ordnung und Stabilität im Lande zu gewähren. Quelle: dapd

Von Qadhafis orientalischer Despotie zum Staatszerfall

Von 1969 bis 2011 hat Qadhafi es geschafft, als „moderner Imam“ Ordnung und Stabilität im Lande zu gewähren. Dies geschah nach dem oben erläuterten Modell des Propheten: Föderation der Stämme unter der Führung seines eigenen Stammes. Als Qadhafi gestürzt wurde, löste sich die gesamte staatliche Ordnung auf. Libyen ist ein arabisches Paradebeispiel für die Personifizierung der Staatsmacht. Lisa Anderson ist bis heute die beste Expertin auf diesem Gebiet. Meine ehemalige Harvard-Kollegin beim erwähnten Forschungsprojekt „Tribes and State Formation in the Middle East“ stieg später zur Präsidentin der American University of Cairo auf. Andersen verfasste das Libyen-Kapitel in dem zitierten Buch. Sie schreibt dort, dass sowohl unter Idris als auch unter Qadhafi „tribal affiliations are not only strong but also continue to present a challenge to the acceptance of the state as primary vehicle“. Anderson stellte also die bis heute anhaltende Verbindung zwischen “tribe and authority” fest.

Ich fasse zusammen: Damals und heute haben arabisch-islamische Imam-Herrscher versucht, die Stammesordnung abzuschaffen, jedoch unter der Führung eines Stammes. Auch Qadhafi war, wie Anderson schreibt, „opposed to tribalism“. Aber trotz aller Rhetorik vom Islam und Panarabismus war die Herrschaft unter Qadhafi so gestaltet: „tribal relationships retained much of their importance“. So wie sich in den alten Zeiten der Kalif mit eigenen Stammesleuten umgab, so tat dies auch der moderne Diktator Qadhafi, der eine Politik des „recruiting staff“ aus dem eigenen beziehungsweise aus verbündeten Stämmen betrieb.

In aller Klarheit muss man sagen, dass unter den beschriebenen Bedingungen alle Voraussetzungen für Demokratie, für eine politische Kultur des Pluralismus, für staatliche Institutionen und für eine volonté generale im Rousseau’schen Sinne nach wie vor fehlen. In meinem Buch über den Arabischen Frühling - „The Sharia State“ - habe ich die Ergebnisse einer Oxford-Studie erläutert, wonach sich die heutigen Libyer nach der Ermordung Qadhafis keinesfalls nach Demokratie sehnen, sondern einen starken politischen Imam als Herrscher herbeisehnen.

Wenn man auf Wunschdenken verzichtet und von den bestehenden Realitäten ausgeht, gibt es nur dieses Szenario für ein geordnetes Libyen: Nur eine starke Persönlichkeit, gestützt auf einen stammesübergreifenden Konsens, auf Charisma und mit entsprechender Machtbasis, kann die libyschen Stämme einen und eine staatliche Ordnung herstellen. Wahlen und Demokratie sind in einem Land wie Libyen eine Karikatur. Wie ich in meinem Buch „Der wahre Imam“ begründet habe, besteht die islamische Geschichte aus der Suche nach dem Anführer der Umma als „federation of the tribes“. Libyen ist keine Ausnahme. Der ersehnte Imam ist jedoch nicht in Sicht und so werden auch in Zukunft weitere Hunderttausende Afrikaner mit Hilfe von Kriminellen den Weg nach Europa finden - über das Transitland Libyen. Ein von Illusionen, nicht von einer Policy getriebener Kanzlerinnen-Besuch in drei afrikanischen Staaten, aus denen die Flüchtlinge kommen, wird an dieser Realität nichts ändern.

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