London Babylondon

Menschen aus rund 200 Nationen leben in der britischen Hauptstadt – keine andere europäische Stadt präsentiert sich so international.

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Brick Lane in East London: Quelle: uppa

Kinga Skonieczna lacht. Ihr rabenschwarzer Pferdeschwanz wippt, die abgeschrägten pink-schwarzen Ponyfransen tanzen auf ihrer Stirn und der kleine Diamant unter ihrer Nase funkelt. „Ich mag es hier, es gibt so viele verschiedene Menschen, immer Abwechslung“, sagt die junge Friseuse in gebrochenem Englisch. Ein Jahr ist die 22-Jährige nun schon in London – und sie will „nicht mehr nach Polen zurück“. Im Unisex-Salon „Hair Works“ im Westlondoner Stadtteil Hammersmith fand die junge Friseuse sofort einen Job. Ihre Chefin ist Türkin.

In Hammersmith fühlt sich Kinga auch deswegen wohl, weil es fast wie zu Hause zugeht. Einkaufen geht man im Zapraszamy. Dort gibt es „the best food from Poland“. Selbst Knorr-Suppen und Dr.-Oetker-Puddingpulver stehen in polnischer Originalverpackung im Regal. „New Products, sorry, no english information“, warnt ein Schild eingeborene Londoner, falls sie sich mal hierher verirren sollten. Um die Ecke, in der Buchhandlung Ksiegarnia, sind Bücher über Johannes Paul II. und Harry-Potter-Bände auf Polnisch zu finden. Im Jazz Café gleich nebenan tritt der polnische Pianist Mateusz Kotakowski auf. Und auch das ist Little Poland: Inzwischen besuchen im Vereinigten Königreich sonntags mehr Katholiken als Anglikaner den Gottesdienst.

Seit 2004 sind schätzungsweise 1,8 Millionen Ausländer ins Land gekommen, allein nach London 650.000 Einwanderer, so der „Daily Telegraph“ (weil es im Vereinigten Königreich keine Meldepflicht gibt, fehlen präzise Zahlen). Die meisten der osteuropäischen Zuwanderer stammen aus Polen. Längst arbeiten sie nicht nur zu niedrigen Löhnen als Kellner, Installateure, Verkäuferinnen oder Kindermädchen. Der Bauunternehmer Sylvester Wasko etwa lebt im Südwesten Londons in einer schicken Villa; seine Kinder besuchen teure Privatschulen.

Zwei Gründe machten den Zustrom möglich: Anders als Deutschland verzichtete die Labour-Regierung 2004 darauf, die Einwanderung aus den neuen östlichen EU-Mitgliedsländern zu begrenzen – und der wirtschaftliche Boom schuf unzählige neue Arbeitsplätze. Zwischen 1997 und 2007 entstanden mehr als zwei Millionen neue Stellen – rund 80 Prozent wurden, wie das Arbeitsministerium einräumen musste, mit Ausländern besetzt. „Die Regierung schuf britische Jobs für ausländische Arbeitskräfte“, kritisiert der konservative Politiker Chris Grayling.

Doch Polen, Tschechen, Ungarn und Slowaken sind nur ein Teil der multikulturellen Bevölkerungsmelange in London, wo mehr als 200 verschiedene Nationalitäten zu Hause sind. Hier ist jede Rasse und jede Hautfarbe vertreten, mehr als 100 verschiedene Sprachen und Dialekte werden gesprochen. Fast 40 Prozent der mehr als sieben Millionen Einwohner der britischen Hauptstadt wurden im Ausland geboren.

Schon zu Zeiten des British Empire zog die Stadt Menschen aus den ehemaligen Kolonien magnetisch an. Später, in den Siebzigerjahren, kamen infolge steigender Ölpreise und des neuen Reichtums der Golfstaaten viele wohlhabende Araber nach London. Bis in die Achtzigerjahre zogen Tausende Menschen aus der Karibik, aus Indien, Pakistan und Bangladesch an die Themse. Um die Jahrhundertwende kamen dann die reichen Russen, mit der EU-Osterweiterung 2004 schließlich die Polen, Slowenen, Tschechen und Slowaken.

Heute ist London multikultureller denn je. Amerikanische, europäische und asiatische Banken haben einen scheinbar unstillbaren Bedarf an Investmentbankern, Analysten und Devisenhändlern. Die Kunst- und Werbeszene wirkt als Magnet für Kreative aus aller Welt. Die Superreichen aus Russland, Amerika, Indien, den Golfstaaten und vielen anderen Teilen der ganzen Welt lieben die Sicherheit und das internationale Flair Londons – und profitieren von den Steuerprivilegien für Ausländer, die nur ihre britischen Einkünfte versteuern müssen, alle anderen Einnahmen bleiben steuerfrei.

Nutznießer sind beispielsweise der russische Oligarch Roman Abramowitsch, der indische Stahlbaron Lakshmi Mittal und der schwedische Tetra-Pak-Erfinder Hans Rausing, aber auch zwei Deutsche – das Top-Modell Claudia Schiffer und der Fußballstar Michael Ballack. Und natürlich die Private-Equity-Chefs, wie der gebürtige Ägypter Sir Ronnie Cohen.

Zwar sollen Ausländer, die länger als sieben Jahre in Großbritannien wohnen, ab April einen Pauschalbetrag von jährlich 30 000 Pfund bezahlen. Doch „für die wirklich Reichen wird dies nicht mehr als ein lästiger Flohbiss sein“, sagt Vince Cable, finanzpolitischer Sprecher der oppositionellen Liberaldemokraten.

Für den Luxuskonsum bleibt noch immer genug. „Die reichen Amerikaner, Russen, Inder kennen sich gut aus, und der Preis spielt für sie keine Rolle“, sagt Alisa Moussaieff, die in der renommierten Bond Street teuren Schmuck verkauft. Viele Boutiquen auf der Bond Street – Gucci, Fendi, Louis Vuitton, Christian Dior – haben inzwischen russische Verkäuferinnen angestellt.

Rund 250 000 Russen haben London zum „Moskau an der Themse“ gemacht – mit drei florierenden russischen Tageszeitungen und vier eigenen Schulen. Nicht jeder kann so reich sein wie die Oligarchen Roman Abramowitsch oder Boris Berezovski, aber alle wissen die Weltläufigkeit und Liberalität der Stadt zu schätzen. Als politischer Flüchtling kam der 37-jährige Banker Alexej Moisejew noch in der Gorbatschow-Ära in die Stadt: „London ist die Hauptstadt der Welt, hier werden Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten und verschiedener ethnischer Abstammung mit Respekt behandelt.“

Während für die Russen Sicherheit und Shopping im Vordergrund stehen, kommen die Südkoreaner vor allem wegen des britischen Bildungssystems nach London. Die größte südkoreanische Gemeinschaft Europas ist in New Malden, einem Vorort im Südwesten. „Unsere Kinder sollen Englisch lernen und später einmal auf eine englische Universität gehen“, sagt der 43-jährige Kwangjae Oh, der seit neun Jahren in Großbritannien lebt. Für Bildung geben seine Landsleute viel Geld aus: „Mehr als die Hälfte des Einkommens meines Bruders steckt er in die Schulausbildung seiner Kinder“, sagt Oh, der sich in Großbritannien als Gärtner durchschlägt.

Im Osten liegt die Brick Lane. Dort wohnen arme Einwanderer aus Indien, Pakistan und Bangladesch. „Banglatown“ nennen Einheimische die Gegend. Verschleierte Frauen tuscheln vor dem Halal-Metzger, ein Hauch von Curryduft hängt in der Luft, überall dudeln lang gezogene arabische Klänge. Bärtige Männer in knielangen Hemden, weißen Hosen und muslimischen Gebetskappen (Kufi) schlurfen aus der Moschee. Bis 1976 diente das Gebäude als Synagoge, davor war es eine Methodistenkirche, ganz früher trafen sich hier die Hugenotten zum Gebet.

Wegen ihres geringen Bildungsniveaus haben die 150.000 in London lebenden Bangladescher weniger Erfolg als Inder und Pakistaner. Meist arbeiten sie als Köche, Kellner oder Hilfskräfte in Curryrestaurants. „Es fehlt an Vorbildern für andere Berufe“, meint Misbah Mosobbir, Gründer von „bobNetwork“, einer Vereinigung, die sich um seine Landsleute kümmert. Mosobbir selbst ist die Ausnahme. Er schaffte in Abendkursen die Universitätsqualifikation und ist heute Investmentbanker.

Ins Finanzviertel hat er es nicht so weit. Die City lässt sich von Brick Lane aus zu Fuß erreichen und ist eine völlig andere Welt. In den Auslagen funkelt teurer Diamantenschmuck, schimmert hochwertiges Leder. Männer in Nadelstreifenanzügen, Frauen in gedeckten Kostümen und klassischen Hosenanzügen hasten tagsüber durch die Straßen. Abends wird in den Bars und Restaurants teurer Champagner gereicht. In der Nachbarschaft der Bank of England schlägt das Herz des englischen Kapitalismus – den Gesetzen der Profitmaximierung wird alles andere untergeordnet.

Auch hier hört man häufig Englisch mit Akzent: 27 Prozent aller Beschäftigten in der City sind Ausländer. Amerikaner, Aus-tralier, Inder, Südafrikaner, Schweizer, Franzosen, Italiener. Verantwortlich dafür ist der Big Bang, mit dem die damalige Premierministerin Margaret Thatcher 1986 den Finanzplatz London radikal deregulierte und damit ausländischen Banken und Finanzinstitutionen die gleichen Rechte einräumte wie den einheimischen Häusern. Viele britische Bankhäuser wurden von ausländischen Instituten aufgekauft, die ihre eigenen Leute mitbrachten. Manche, wie der Inder Anshu Jain, wurden Stars. Er ist heute der mächtigste Banker bei der Deutschen Bank in London; der US-Amerikaner Bob Diamond leitet die Barclays Capital, und der in Deutschland weniger bekannte Libanese Walid Chammah steuert als einer von zwei Co-Präsidenten von London aus die Wall-Street-Bank Morgan Stanley.

Das Privatleben der Hochfinanz findet immer noch weitgehend in den westlich gelegenen Edelstadtteilen Kensington und Chelsea, Knightsbridge, Mayfair und Notting Hill statt. Hier leben die begüterten Briten und Ausländer, und hier verschwimmen die Grenzen zwischen den Nationalitäten – die Wohlhabenden und Superreichen bilden eine Multikulti-Klasse für sich. Rund 66 Prozent der Edelimmobilien mit einem Preis von mehr als zwei Millionen Pfund (2,7 Millionen Euro) sind nach Angaben der Maklerfirma Knight Frank im Besitz von Ausländern.

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