Massenflucht aus Krisenstaat „In Venezuela gibt es keine Zukunft“

Venezuela: Massenflucht aus Krisenstaat Quelle: dpa

Präsident Maduro laufen die Untertanen weg. Hunderttausende Venezolaner fliehen vor Hunger und Unterdrückung. Sie suchen nach einem besseren Leben in Kolumbien, Ecuador oder Peru. Wenn es sein muss, auch zu Fuß.

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Mit sorgenvollem Blick schaut Luis Peña hinauf zu den Gipfeln des Páramo. „Kalt ist es dort oben“, sagt der junge Venezolaner und zieht sich die grüne Decke noch etwas enger um die Schultern. Zwei Tage ist er mit seinen Freunden bereits von der tropischen Grenzstadt Cúcuta Richtung Süden gelaufen, jetzt müssen sie über die kalte Hochebene. „Wir wollen nach Ecuador, um Geld zu verdienen und unseren Familien etwas zu schicken“, sagt der zweifache Vater. „In Venezuela gibt es kein Leben mehr für uns, keine Zukunft“.

Tausende Venezolaner kehren ihrer Heimat jeden Tag den Rücken. Wer Geld hat, kauft sich direkt an der Internationalen Brücke Simón Bolívar in Cúcuta ein Busticket in die Hauptstadt Bogotá oder gleich bis an die Grenze nach Ecuador. Wer nichts hat, muss laufen. Mit Rollkoffern, Sporttaschen und Rucksäcken marschieren die Venezolaner die Landstraße entlang. Sie lassen Hunger und Unterdrückung hinter sich und hoffen auf ein besseres Leben im Ausland.

Das einst reiche Venezuela steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise. Für das laufende Jahr rechnet der Internationale Währungsfonds (IWF) mit einer Inflationsrate von einer Million Prozent. Außerdem könnte die venezolanische Wirtschaftsleistung um 18 Prozent einbrechen. Aus Mangel an Devisen kann das erdölreichste Land der Welt kaum noch Lebensmittel, Medikamente oder Dinge des täglichen Bedarfs einführen.

„Ich habe im Dezember das letzte Mal Hühnchen gegessen. Seitdem nichts als Reis und Linsen. Und auch davon gibt es nicht genug“, erzählt Peña. „Und wenn du protestierst, stecken sie dich ins Gefängnis.“ Venezuelas autoritärer Präsident Nicolás Maduro hat das von der Opposition dominierte Parlament entmachten lassen und sich in umstrittenen Wahlen im Amt bestätigen lassen. Regierungsnahe Schlägertrupps – die so genannten Colectivos – terrorisieren die Bevölkerung. „Ich sehe in Venezuela keine Zukunft mehr für uns und unsere Kinder“, sagt César Fuentes. „In den Banken gibt es kein Geld, in den Krankenhäusern keine Medikamente.“ In Maracay arbeitete der 42-Jährige als Schlachter, doch Fleisch gibt es schon lange nicht mehr in Venezuela. Seit einem Monat hängt er nun schon in der Migrantenherberge der Scalabrini-Missionare in Cúcuta fest und wartet auf gültige Papiere für seine Familie zur Weiterreise. Seine Frau hat eine Tante in Quito, da wollen sie jetzt hin.

Vielen geht es ähnlich. Die meisten Venezolaner haben keinen Pass – 700 Dollar kostet das Dokument. Bis Juni hat Kolumbien fast eine halbe Million Venezolaner registriert und ihnen eine Aufenthaltserlaubnis für zwei Jahre erteilt. Damit dürfen sie arbeiten, können sich in Krankenhäusern behandeln lassen und ihre Kinder zur Schule schicken. Jetzt aber wurde das Projekt gestoppt. Seitdem Ecuador und Peru angekündigt haben, Venezolaner nur noch mit gültigen Pässen ins Land zu lassen, herrscht Unsicherheit.

Experten sprechen von der wohl größten Flüchtlingskrise in der Geschichte Lateinamerikas. Mindestens 2,3 Millionen Venezolaner haben nach Angaben der Vereinten Nationen das Land bereits verlassen. Über 800 000 haben sich in Kolumbien niedergelassen. Präsident Iván Duque will die Flüchtlinge zwar weiterhin aufnehmen, bittet für die Versorgung der Menschen aber um internationale Unterstützung. Viele Venezolaner stranden zunächst in Cúcuta. Sie verkaufen Süßigkeiten auf der Straße, putzen Windschutzscheiben an den Ampeln, verdingen sich als Tagelöhner. „Viele Frauen müssen sich prostituieren, um zu überleben“, sagt Willigton Muñoz von der Migrantenherberge im Cúcuta. Oder sie verkaufen ihr Haar, das für Perücken oder Extensions genutzt wird. „Wir kaufen Haare, wir kaufen Haare“, ist tatsächlich das Erste, was den Venezolanern entgegen schallt, wenn sie über die Grenze nach Kolumbien kommen.

Die jahrelange Mangelernährung hat bei vielen Flüchtlingen Spuren hinterlassen. „Die meisten sind unterernährt und leiden unter Durchfall“, sagt die Ärztin Julieth Riaño. In einem improvisierten Sprechzimmer neben dem Speisesaal der Diözese untersucht sie ihre Patienten und verschreibt Medikamente. Vor allem die Kinder müssen zunächst mühsam aufgepäppelt werden. „Wir geben ihnen zunächst einmal Milch, um ihren Appetit anzuregen. An größere Mengen fester Nahrung sind sie gar nicht mehr gewöhnt.“

In der kommenden Woche will sich die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mit der Flüchtlingskrise in Venezuela befassen. „Die Situation ist hoffnungslos. Das Gesundheitswesen, das Bildungssystem und die öffentliche Sicherheit sind zusammengebrochen“, sagte OAS-Generalsekretär Luis Almagro. „Der Staat ist nicht in der Lage, für Strom und Wasser zu sorgen oder die Minimalvoraussetzungen zu schaffen, die die Bevölkerung zum Leben braucht.“

Die Hilfsorganisationen in Cúcuta bereiten sich unterdessen auf einen langen Einsatz vor. „Die Lage ist besorgniserregend“, sagt die Präsidentin des Roten Kreuzes in der Region, Gladys Navarro Uribe. „Ich weiß noch nicht mal, ob ich von einer Krise sprechen will, denn eine Krise hört ja irgendwann wieder auf. Im Moment sieht es aber nicht danach aus.“

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