Mediziner suchen die Ursache Immer mehr Gastarbeiter aus Nepal sterben im Ausland

Etwa jeder zehnte Nepalese arbeitet fernab der Heimat. Dass einige nicht lebend zurückkehren, ist also statistisch normal. Zuletzt ist die Zahl der Todesfälle jedoch stark gestiegen. Grund sind nicht nur Unfälle.

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Neben genetischen Faktoren, Infektionen und Nährstoffmangel, sollen Stress, veränderte Ernährung, Heimweh und harte Arbeitsbedingungen in einem extrem heißen Klima als mögliche Ursachen der Todesfälle der Nepalesen im Ausland sein. Quelle: AFP

Kathmandu Leise weint die junge Frau in ihren dünnen Schal. Saro Kumari Mandal steht vor dem Flughafen von Kathmandu. Um sie herum herrscht buntes Treiben. Bergwanderer und andere Touristen kommen aus dem Terminal. Hunderte Nepalesen – allein an diesem Tag sind es etwa 1500 – machen sich zum Abflug in eine ungewisse Zukunft als Gastarbeiter bereit. Auch Saros Mann war voller Hoffnung aufgebrochen. In Katar wollte er im Straßenbau helfen. Nun aber ist seine 26-jährige Frau gekommen, um seine Leiche in Empfang zu nehmen.

Sechs einfache Holzsärge werden schließlich auf Gepäckwagen herausgerollt. Auf einem davon steht in schwarzer Schrift: „Die menschlichen Überreste von Balkisun Mandal Khatwe“. Das war Saros Ehemann – und der Vater ihres Sohnes. Die Trauer überwältigt die junge Frau. Ihr Gesicht versteckt sie nun ganz in ihrem Schal. Das dreijährige Kind hält sie dabei fest in ihren Armen, um es vor der Kälte zu schützen.

Im Jahr 2008 reisten etwa 220.000 Nepalesen als Gastarbeiter ins Ausland, die meisten nach Malaysia, Katar und Saudi-Arabien. Wegen einer staatlichen Förderung stieg die Zahl bis 2015 auf etwa eine halbe Million. Die Zahl derer, die im Ausland starben, stieg in dieser Zeit allerdings deutlich stärker. Während 2008 einer von 2500 Arbeitern nicht mehr lebend zurückkehrte, fanden sieben Jahre später etwa fünfmal so viele im Verlauf des Aufenthalts fern der Heimat den Tod. Das geht aus Unterlagen des nationalen Arbeitsministeriums hervor.

Die angegebene Todesursache ist oft Herzinfarkt, Herzstillstand oder einfach ein natürlicher Tod. Die Männer legen sich nach einem anstrengenden Arbeitstag schlafen – und wachen nicht mehr auf. So soll es auch bei Balkisun gewesen sein. Das mag zwar ungewöhnlich erscheinen. Internationale Experten weisen aber darauf hin, dass es eine ähnliche Häufung von Todesfällen unter asiatischen Gastarbeitern auch in den 70er Jahren in den USA, etwa zehn Jahre später in Singapur und vor nicht allzu langer Zeit in China gegeben habe.

Mediziner sprechen vom „Syndrom des ungeklärten plötzlichen nächtlichen Todes“. Die Hintergründe sind bisher kaum bekannt. In wissenschaftlichen Zeitschriften werden genetische Faktoren, Infektionen und Nährstoffmangel genannt. Die nepalesischen Behörden geben zudem Stress, veränderte Ernährung und auch Heimweh als mögliche Ursachen an – ausgelöst durch harte Arbeitsbedingungen in einem extrem heißen Klima. Um die Forschung voranzubringen, plant der Herzspezialist Nirmal Aryal von der University of Otago in Neuseeland in diesem Bereich ab dem kommenden Jahr eine länderübergreifende Untersuchung der Vorfälle.


Zehn Prozent der Nepalesen arbeiten im Ausland

Insgesamt leben und arbeiten fast zehn Prozent der 28 Millionen Einwohner Nepals im Ausland. Von dort schicken sie umgerechnet etwa sechs Milliarden Euro pro Jahr zurück in die Heimat – das sind 30 Prozent der Einnahmen des Landes. Um einen Job in einem fremden Land zu bekommen, zahlt ein ausreisewilliger Arbeiter meist etwa 1050 Euro an einen Vermittler. Wenn er in der Folge nicht mit irgendwelchen Tricks um seine Einnahmen betrogen wird – was immer wieder vorkommt – kann er pro Monat etwa 290 Euro an die Familie überweisen.

Genau das hatte auch Balkisun vor. Doch nur sechs Wochen nach seiner Ankunft im Ölstaat Katar starb er im Schlaf. Der Sarg mit seiner Leiche wird nach der Ankunft am Flughafen von Kathmandu von einem Fahrzeug der nepalesischen Regierung in sein Heimatdorf gebracht. Saro und ihr Sohn sitzen auf dem Rücksitz. Acht Stunden dauert die gefährliche Fahrt in die kleine Ortschaft Belhi, in der die Familie zu acht in einer ärmlichen Hütte aus Lehm wohnt und jeder mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen muss.

Als sie Belhi erreichen, werden sie dort von Hunderten Dorfbewohnern empfangen. Frauen in traditionellen Saris, Männer in Arbeitskleidung und zahlreiche Kinder strömen in die enge, unbefestigte Straße. Einige beobachten das Geschehen von Dachterrassen aus, andere stehen dicht zusammengedrängt auf Balkonen. Die meisten haben Tränen in den Augen.

Etwa 50 Männer tragen den Sarg schließlich auf einer Sänfte aus Bambus zu einem Fluss, wo der tote Körper gemäß religiöser Bräuche verbrannt wird. Der dreijährige Sohn des Verstorbenen wird im Wasser rituell gereinigt und dann in ein weißes Gewand gekleidet. Ein Onkel hilft ihm dabei, den Scheiterhaufen mit einem Bündel von Zweigen in Brand zu setzen.

Die Rückkehr des verstorbenen Balkisun hat auch Mohammed Tohit beobachtet. Der 28-Jährige wird von vielen im Dorf bewundert und beneidet. Er lebt in einem soliden Haus aus Zement mit zwei Schlafzimmern. Zudem hat er einen kleinen Hof, eine Kuh, eine Ziege und einen Fernseher. Dass er sich all das kaufen konnte, liegt einzig und allein daran, dass er sechs Jahre in Malaysia als Näher gearbeitet hat. In wenigen Tagen wird er erneut aufbrechen, diesmal nach Saudi-Arabien. „Natürlich habe ich Angst“, sagt er, „aber hier gibt es keine Möglichkeit, etwas zu verdienen“.

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