Unternehmensethik ist das eine, Moral was ganz anderes. Zuletzt durfte jeder Idiot von sich annehmen, er sei schon Inhaber eines Arguments, sobald er sich von „naiven Gutmenschen“ distanziert.
Und das ist ein Fehler. Ökonomische Fragen können nicht ohne Rekurs auf Fragen des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit entschieden werden. Eine Ökonomie, die von sich selbst annimmt, es handle sich bei ihr um eine wertfreie Wissenschaft, übersieht – und versteckt – die impliziten moralischen Urteile in ihren eigenen Analysen.
Sie meinen, die Selbstannahme ihrer Wertfreiheit ist in Wirklichkeit eine moralische Selbsterhöhung der Ökonomie?
Wir sind in den vergangenen Dekaden fast unmerklich von einer Marktökonomie in eine Marktgesellschaft abgedriftet. Der Unterschied ist: Bei der Marktökonomie haben wir es mit einem effektiven Werkzeug zur Organisation produktiver Aktivitäten zu tun. Die Marktgesellschaft dagegen ist ein Raum, in dem alles zum Verkauf steht und in dem das Marktdenken unser gesamtes Leben überformt: Familie, Beziehungen, Gesundheit, Politik, Recht – alles.
Und wenn alles seinen Preis hat, hat nichts mehr seinen Wert?
Wir brauchen eine moralische Debatte über die angemessene Rolle von Märkten. Die Finanzkrise markiert das Ende einer drei Jahrzehnte währenden, unhinterfragten Marktgläubigkeit. Sie basierte auf der irrigen Annahme, dass Märkte und ihre Mechanismen aus sich selbst heraus Gerechtigkeit und Gemeinwohl produzieren. Umso verblüffender, dass die überfällige Debatte auch nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte weitgehend ausblieb.
Warum bloß?
Das Marktdenken hat uns so fest im Griff, dass es unsere moralische Vorstellungskraft lähmt. Der Markt scheint uns – jenseits seiner unbestrittenen Leistungsfähigkeit bei der Beschaffung und Distribution von Gütern – neutrale Lösungen für alle Fragen des Zusammenlebens anzubieten. Er scheint uns Differenzen darüber zu ersparen, wie wir zusammenleben wollen. Er scheint Probleme aus der Welt zu schaffen, ohne dass wir komplizierte Debatten über Werte und Moral, über Gerechtigkeit und Gemeinwohl führen müssten.
Das Marktdenken betreibt Raubbau an der Moral und untergräbt das Politische?
Es ist kein Zufall, dass sich Marktgläubigkeit und Politikverdruss komplementär zueinander verhalten. Die Menschen realisieren, dass die herrschenden Diskurse leer und hohl sind, weil keine großen Fragen, kein höherer Sinn mehr verhandelt wird. Deshalb herrscht so viel Frustration in den liberalen Demokratien des Westens: Die Politik verhandelt nicht mal mehr, was sie recht eigentlich gestalten soll: das Zusammenleben der Menschen.