Mobilmachung Kämpft Putin jetzt gegen sein eigenes Volk?

Junge russische Männer, die zum Militärdienst eingezogen werden Quelle: imago images

In Russland gilt ein neues System der Wehrpflicht: Als Digitalisierung des Lebens getarnt, können Männer künftig deutlich leichter zum Militärdienst eingezogen werden. Das hat Folgen für Gesellschaft und Unternehmen.

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Die ersten Monate des Ukraine-Krieges liefen gut für den Kreml: Getarnt als „Spezialoperation“ schaffte Putin es, den Krieg aus dem russischen Hinterland und Metropolen größtenteils herauszuhalten. Vor einem halben Jahr kam dann die Teilmobilmachung von Männern im Alter zwischen 18 und 27 Jahren, jetzt geht der Kreml noch einen Schritt weiter.

Mit Gesichtserkennungs-Kameras sollen in der russischen Hauptstadt Moskau mögliche Rekruten für das Militär geortet werden. Die amtliche Nachrichtenagentur Tass zitierte den Chef der Einberufungsbehörde, Maxim Loktew, am Dienstag mit den Worten, mit Hilfe der Kameras werde der Wohnort der Wehrpflichtigen identifiziert. Damit soll verhindert werden, dass sich Wehrpflichtige dem Dienst entziehen. Zusätzlich unterzeichnete Präsident Wladimir Putin in der vergangenen Woche ein Gesetz, das den russischen Behörden nicht nur mehr Druckmittel und Kontrollmöglichkeiten gegenüber den Wehrpflichtigen gibt, sondern es auch einfacher macht, sie zum Militärdienst einzuziehen.

Groß diskutiert wurde die Reform nicht: Die Blitzabstimmung dauerte lediglich 23 Minuten und damit nur halb so lang, wie die über einen Gesetzentwurf zum Verkauf von Vapes, also E-Zigaretten.

Digitale Einberufung der russischen Soldaten

Bisher wurde die Vorladung zum Militärdienst persönlich überreicht und mit einer Unterschrift quittiert. Damit konnten viele Russen der Einberufung entgehen. Entweder sie wohnten nicht an ihrer Meldeanschrift oder gaben vor, nicht zu Hause zu sein. Nun wird dieser Prozess mithilfe eines Online-Serviceportals digitalisiert. Das Digitalregister enthält eine lange Liste persönlicher Informationen: Passdaten, Steuernummer und Rentenversicherungsausweis, Angaben zum Führerschein, die Telefonnummer, Meldeanschrift, eventuelle Vorstrafen und viele mehr.

Nach Angaben der Nachrichtenagentur Bloomberg will die russische Armee so rund 400.000 neue Vertragssoldaten rekrutieren, um sie in den Krieg gegen die Ukraine zu schicken. Erst kürzlich wurde im Rahmen eines Gesetzesentwurfs geplant, die Obergrenze des Wehrdienstalters von 27 auf 30 zu erhöhen.

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Die Digitalisierung von amtlichen Prozessen wurde in Russland schon vor über einem Jahrzehnt ins Rollen gebracht. Gänge zu verschiedenen Ämtern können unlängst online erledigt werden, außerdem konnte der Staat durch die Online-Meldungen mehr Einnahmen durch Steuern generieren. „Dieser Schritt hat aber nichts mehr mit einem komfortablen Service für die Gesellschaft zu tun, es geht vor allem um Kontrolle und die Rekrutierung von Soldaten“, erklärt Andrei Yakovlev, Ökonom am Davis Center for Russian and Eurasian Studies an der Harvard University, „die Reform ist eine große Veränderung für die Armee und die Gesellschaft“.

Ist der Bescheid da, hat der Wehrpflichtige 20 Tage Zeit, um sich beim Militärkommissariat vorzustellen. Bis dahin darf er das Land nicht verlassen. Die russische Regierung droht außerdem mit wirtschaftlichen Sanktionen: Melden sich die einberufenen Männer nicht, können sie keine Immobilien kaufen, sich nicht selbstständig machen und keinen Kredit mehr aufnehmen.

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Wieso diese drastischen Maßnahmen, und nicht einfach eine Geldstrafe? „Das Militär braucht kein Geld, sondern Soldaten“, kommentiert Yakovlev. Zusätzlich treffen diese Art von Sanktionen einzelne Gruppen von Menschen unterschiedlich schwer. Am schlimmsten sei jedoch das Ausreiseverbot. Diejenigen, die nach der Ankündigung der Teilmobilisierung im September noch nicht fliehen konnten, würden es nun wahrscheinlich nicht mehr schaffen.

Doch nicht nur die Gesellschaft leidet unter der neuen Mobilisierungswelle, auch russische Unternehmen haben es seit Beginn der Teilmobilisierung schwer. „Vor September letzten Jahres hat der Kreml versucht eine Illusion von Normalität aufrechtzuerhalten“, sagt Yakovlev. Der Krieg wurde als Spezialoperation verkauft, die nur die Regierung etwas angeht. Spätestens jetzt sei klar, dass das alles gelogen war. „Die drastischen Maßnahmen verhindern Investitionen und Entwicklungen in der Wirtschaft, Unternehmen verlieren Arbeitskräfte – die Auswirkungen werden gravierend sein“.

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Auf Twitter fürchten Russinnen und Russen, dass das neue Gesetz nur der nächste Schritt zur Vollmobilmachung sei. Kremlsprecher Dmitri Peskow weist das zurück. Er begründet die Initiative mit einer allgemeinen Digitalisierung des Lebens. Auch Yakovlev glaubt nicht, dass es in den nächsten Monaten zur vollen Mobilisierung kommt: „Viele bewaffnete, wütende Soldaten können für die Regierung gefährlich werden“, sagt er.

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