Angesichts der Großoffensive zur Rückeroberung der irakischen Stadt Mossul aus den Händen der Terrormiliz Islamischer Staat warnt EU-Sicherheitskommissar Julian King vor möglichen negativen Folgen für die Sicherheit in Europa. „Die Rückeroberung der nordirakischen IS-Hochburg Mossul kann dazu führen, dass gewaltbereite IS-Kämpfer nach Europa zurückkommen“, sagte King der „Welt“ (Dienstag). Das sei eine sehr ernste Bedrohung. Allerdings gehe er nicht von einem „Massenexodus von IS-Kämpfern nach Europa“ aus. Wichtig sei jetzt, durch geeignete Maßnahmen Terroristen immer weniger Handlungsmöglichkeiten zu geben und „insgesamt unsere Widerstandsfähigkeit gegen die terroristische Bedrohung zu erhöhen.“
Die Konfliktparteien wurden unterdessen aufgerufen, die in der Stadt lebenden Zivilisten möglichst zu schonen. Das fordert das Komitee vom Internationalen Roten Kreuz (IKRK) und Roten Halbmond in Genf. „Es ist besonders wichtig, die Gesundheitseinrichtungen und deren Personal zu schützen“, teilte das IKRK am Montagabend mit. Das Rote Kreuz stehe bereit, den bis zu einer Million Flüchtlingen in den nächsten Tagen und Wochen beizustehen. Alle Konflikt-Parteien müssten ihr Möglichstes tun, um sicherzugehen, dass ihre Ziele rein militärischer Natur seien. Allen Bewohnern, die aus der Stadt fliehen wollten, sollte ein sicherer Korridor zur Verfügung stehen, forderte das IKRK.
Ein Militärbündnis unter Führung der irakischen Armee hat am Montag eine Offensive auf die nordirakische Stadt begonnen, um die IS-Kämpfer aus ihrem wichtigsten Stützpunkt zu vertreiben. Der IS hatte die Millionenstadt Mossul im Juni 2014 vollständig unter seine Kontrolle gebracht. Die seit Monaten vorbereitete Großoffensive zur Rückeroberung der Stadt ist die entscheidende Phase im Kampf gegen die Extremisten. Nach Medienberichten sollen 30 000 Mann der Allianz 4000 IS-Kämpfern gegenüberstehen. Irakische Streitkräfte und kurdische Peschmerga eroberten am ersten Tag nach Angaben von Kurden-Präsident Massud Barsani ein Gebiet von rund 200 Quadratkilometern.
Schiiten und Sunniten
Mit dem Tod des Propheten Mohammed im siebten Jahrhundert spaltete sich die muslimische Gemeinschaft. Grund war die Frage der Nachfolge des Propheten. Eine Minderheit verlangte, dass der Nachfolger aus der Familie Mohammeds stammen müsste und wählte seinen Vetter Ali aus. Sie wurden „Schiat Ali“ genannt – Partei Alis. Daraus entwickelte sich später der Begriff Schiiten. Sunniten leitet sich von der Sunna ab – den Überlieferungen des Propheten.
Die Schiiten fühlen sich als Opfer der Sunniten. In den meisten Ländern stellen sie eine Minderheit dar. Es gibt aber Ausnahmen wie den Irak und den Iran. Im Irak waren die Schiiten, obwohl sie zweidrittel der Bevölkerung darstellten, bis zur Besetzung durch die USA eine unterdrückte Minderheit. Während des Regimes von Saddam Hussein waren sie weder in den Geheimdiensten noch im Militär, den Elite-Truppen oder der politischen Elite in großer Zahl vertreten. Die Sunniten, die nur 20 Prozent der Bevölkerung ausmachten, hatten die Macht inne. Der Iran sieht sich als Interessenvertreter der Schiiten.
Die Sunniten lehnen die Heiligenverehrung und den Märtyrerkult der Schiiten ab. Das Königreich Saudi-Arabien sieht sich als Schutzmacht der Sunniten. Zu den Sunniten zählen auch die Salafisten, die eine Rückkehr zu einem fundamentalistischen Ur-Islam anstreben und einen Gottesstaat errichten wollen. Auch die Kämpfer des Islamischen Staats und die Mitglieder der Muslimbruderschaft sind Sunniten.
Weltweit sind 90 Prozent der Muslime Sunniten – was aber nicht heißt, dass sie allesamt Salafisten oder Vertreter anderer radikaler Auslegungen des Islams sind. Die radikalen Gruppen gehören zu einer Minderheit, die das Bild des Islams prägt.
Sollte die Offensive gegen die letzte IS-Bastion im Land erfolgreich verlaufen, wären die Dschihadisten im Irak militärisch weitestgehend besiegt. Amnesty International wiederum warnte vor schweren Menschenrechtsverletzungen gegen Flüchtlinge aus Mossul. Tausende Zivilisten, die bereits aus Gebieten unter IS-Kontrolle fliehen konnten, seien Opfer von Folter, willkürlicher Inhaftierung, Verschwindenlassen und außergerichtlichen Hinrichtungen geworden, heißt es in einem am Dienstag veröffentlichten Bericht der Menschenrechtsorganisation, der auf Gesprächen unter anderem mit ehemaligen Gefangenen und Augenzeugen basiert.
„Nachdem sie den Schrecken des Krieges und der Tyrannei des IS entkommen sind, drohen sunnitischen Arabern im Irak brutale Vergeltungsschläge durch (vornehmlich schiitische) Milizen und Regierungstruppen. Sie werden für die Verbrechen des IS bestraft“, sagte Philip Luther, Experte für die Region Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty International.