Nach dem Brexit Reform vor der Europawahl?

Nach dem Brexit 2019 sind im Europaparlament 73 Sitze frei. Einige Abgeordnete träumen von einer Grundsatzreform der Europawahlen, die die Bürger an die Urnen locken soll. Am Mittwoch wird abgestimmt.

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Das Europäische Parlament wird seit 1979 alle fünf Jahre von den Bürgern der Europäischen Union direkt gewählt. Tagungsorte sind Straßburg und Brüssel (Bild). Quelle: dpa

Straßburg Die Wahlen zum Europaparlament waren bislang, nun ja, nicht unbedingt ein Publikumsmagnet. Die Beteiligung sank seit dem ersten Durchgang 1979 von 62 auf zuletzt knapp 43 Prozent. Jetzt will das EU-Parlament gegensteuern: Die nächste Wahl 2019 soll bürgernäher, wählertauglicher, demokratischer werden. Am Mittwoch stimmen die Abgeordneten über Reformvorschläge ab, die einige für eine kleine Revolution halten. Zudem wollen die großen Parteien das 2014 erprobte System der Spitzenkandidaten sichern – ebenfalls mit dem Ziel, mehr Wähler für Europa zu begeistern. Beides wird Ende Februar dann auch die EU-Staats- und Regierungschefs beschäftigen. Ein Überblick über eine hitzige Grundsatzdebatte.

Kleine Revolution – worum geht es dabei?

Weil 2019 wegen des Brexits 73 Sitze britischer Abgeordnete frei werden, schlägt der Verfassungsausschuss des Europaparlaments eine Grundsatzreform vor. 27 dieser Mandate sollen für sogenannte transnationale Listen genutzt werden. Das wäre etwas ganz Neues: Auch bei der Europawahl hätte man eine Erst- und eine Zweitstimme – eine für nationale Kandidaten und eine für europaweite Parteilisten, auf denen auch Namen anderer Länder stehen.

Was soll das bringen?

„Das wäre ein strategischer Punkt, der die Europawahlen verändert“, meint der SPD-Abgeordnete Jo Leinen. Bisher gebe es praktisch in jedem Land eine Einzelwahl, oft mit nationalen Themen. Mit den Listen käme erstmals eine echte europäische Abstimmung über Grenzen hinweg. Der Grünen-Abgeordnete Sven Giegold glaubt: „Transnationale Listen öffnen die Tür zu mehr demokratischer Debatte in Europa.“ Janis Emmanouilidis vom European Policy Centre warnt zwar vor überzogenen Erwartungen und der Vorstellung, dass solche Listen die Europäer in Scharen an die Urnen zögen. Er sagt aber auch: „Aus demokratiepolitischer Perspektive ist das ein Schritt in eine positive Richtung.“

Und warum sind dann nicht alle dafür?

Der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei, der CSU-Politiker Manfred Weber, hält den Vorschlag für kontraproduktiv: Wer interessiere sich in Deutschland schon für unbekannte Namen aus Finnland, Estland oder Kroatien? „Wir müssen näher an die Bürger heran, statt uns von den Bürgern zu entfernen“, sagt Weber. Um die Bürger zu mobilisieren, will er lieber, dass die Parteien 2019 wieder europäische Spitzenkandidaten aufstellen, aus denen dann der nächste EU-Kommissionspräsident ausgewählt wird.

2014 lief es das erste Mal so. Die EVP holte die meisten Sitze im Parlament und setzte dann ihren Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker tatsächlich als Kommissionspräsident durch. „Dieses Konzept ist aus unserer Sicht unumkehrbar“, sagt Weber und richtet prompt eine Warnung an die EU-Staats- und Regierungschefs: Die EVP werde 2019 niemanden zum Kommissionschef wählen, der nicht Spitzenkandidat war.

Wieso werden Listen und Spitzenkandidaten so wichtig genommen?

Die Schärfe der Brüsseler Diskussion ist manchmal schwer nachvollziehbar, aber Weber macht deutlich, worum es geht: „Wir stehen vor einem Machtkampf.“ Denn nach den EU-Verträgen ist es so: Der Europäische Rat – also die Staats- und Regierungschefs – schlägt den Kandidaten für das mächtige Amt des Kommissionschefs vor und muss das Ergebnis der Europawahl nur „berücksichtigen“. Ist der Spitzenkandidat der stärksten Partei nach der Wahl praktisch gesetzt, bindet das dem Rat die Hände. Der Streit wurde 2014 schon einmal ausgefochten, als auch Kanzlerin Angela Merkel den Automatismus in Frage stellte und ihren Parteifreund Juncker zappeln ließ. Einige Länder wollen sich das nicht noch einmal aufzwingen lassen.

Und wie groß sind die Chancen auf die Wahlreform?

Die Entscheidung liegt nicht beim Parlament, sondern beim Europäischen Rat. Bei einem Sondergipfel am 23. Februar will Ratspräsident Donald Tusk Meinungen ausloten. Die Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn haben schon wissen lassen, dass sie kein Interesse haben, das Europaparlament weiter aufzuwerten: Die Chefs im Rat sollen die Entscheidungen treffen, kontrolliert von ihren nationalen Parlamenten. Und auch sie argumentieren mit Bürgernähe: „Wir sollten die Distanz zwischen den europäischen Bürgern und den Institutionen in Brüssel verringern.“ Die recht abstrakte Debatte geht also ans Eingemachte: Mehr Macht für die EU oder mehr Kontrolle für die Hauptstädte? Auch hier entscheidet sich, wie es mit Europa weitergeht.

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