WirtschaftsWoche: Erdogan treibt seine „Reinigung“ nach dem Putsch voran. Wie sollten Deutschland und die EU darauf reagieren?
Roy Karadag: Die Europäer probieren es derzeit mit mahnenden Worten. Und ich fürchte, dass etwas anderes kaum möglich ist. Zumal eine härtere Gangart der Opposition und kritischen Zivilgesellschaft nicht hilft.
Die Bundesregierung droht mit dem Ende der EU-Beitrittsverhandlungen, wenn die Türkei die Todesstrafe wieder einführt.
Ja, hier müssen Berlin und Brüssel eine rote Linie ziehen. Aber machen wir uns nichts vor: Schon vor dem Putschversuch waren die Türkei und Brüssel weit voneinander entfernt. Eine Türkei, die Journalisten, Aktivisten und Künstler drangsaliert und verhaftet, gehört nicht in die EU. Trotzdem wird man die Verhandlungen nicht überstürzt abbrechen, denn das ist der einzige Trumpf der EU.
Zur Person
Dr. Roy Karadag leitet das Institut für Interkulturelle und Internationale Studien an der Universität Bremen. Der Politik- und Islamwissenschaftler hat über das politische und ökonomische System der Türkei promoviert.
Wie realistisch ist es, dass die Türkei zur Todesstrafe zurückkehrt?
Ich kann mir das nicht vorstellen, aber schon die Drohung hilft Erdogan enorm. Er wird das Thema jetzt weiter anheizen, um die Rachegefühle bei den AKP-Anhängern zu befriedigen. Wenn er das Vorhaben dann nach längerer Debatte doch wieder fallen lässt, kann sich Erdogan als barmherziger Versöhner inszenieren.
Wenn die EU die Beitrittsverhandlungen abbrechen würde, steht dann der Flüchtlingsdeal auf der Kippe?
Es ist gut möglich, dass manche in Ankara den Deal zumindest teilweise in Frage stellen würden. In jedem Fall wird die Türkei darauf drängen, dass die umstrittenen Anti-Terror-Gesetze bleiben, wie sie sind.
Die EU will die Visafreiheit aber nur gewähren, wenn diese Gesetze entschärft werden.
Ja, das ist ein schwieriger, kaum lösbarer Konflikt. Erdogan wird mit Blick auf den Putsch auf den Gesetzen beharren.
Verabschiedet sich die Türkei gerade endgültig von der Demokratie?
Das hat sie schon vor einer Weile getan. Die Türkei erfüllt alle Kriterien einer sogenannten Mehrheitstyrannei. Die besagt, dass Politik von der Mehrheit für die Mehrheit gemacht wird. Und die demokratischen Rechte, die die Minderheit absichern sollen – also Meinungs- und Pressefreiheit sowie Versammlungs- und Religionsfreiheit – gelten nicht mehr uneingeschränkt. Deswegen ist die Türkei heute bereits keine Demokratie mehr.
Im Moment scheinen zum Teil willkürlich Richter, Polizisten und Soldaten verhaftet oder abgesetzt zu werden. Was will Erdogan erreichen?
Er will demonstrieren, dass niemand vor der Wut des Regimes sicher ist. Niemand soll mehr gegen Partei und Regierung aufbegehren.