Nach der Wahl in Frankreich Macrons Weg zu Reformen ist riskant

Macron hat eine breite Mehrheit im Parlament, doch viele Bürger misstrauen ihm. In den kommenden Monaten braucht der Präsident deshalb vor allen Dingen eins: viel Fingerspitzengefühl. Eine Analyse.

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Emmanuel Macron gilt als großer Gewinner der zweiten Wahlrunde der Nationalversammlung. Doch sein Sieg verpflichtet auch. Quelle: Reuters

Paris Emmanuel Macrons Bewegung „La République en Marche“ (REM) hat die absolute Mehrheit der Abgeordneten erreicht, Frankreich wird allerdings künftig nicht von einer Einheitspartei regiert, wie manche Vertreter der Opposition in den vergangenen Tage in düsteren Worten angedeutet hatten. Sie bezogen sich auf Voraussagen von bis zu 460 Mandaten für REM. Dass es nun weniger geworden sind, wird den jungen Präsidenten wahrscheinlich kaum stören. Erfahrungsgemäß gefährden sehr große Mehrheiten den Zusammenhalt einer Fraktion und lassen die Mitglieder der Mehrheitspartei wie auch die Regierung schnell übermütig werden.

Übermut aber braucht Frankreichs neuer Staatschef bestimmt nicht, es ist Demut angesagt. Diesen Begriff erwähnte Premierminister Edouard Philippe in seiner ersten Reaktion, vor allem wegen der äußerst niedrigen Wahlbeteiligung von lediglich 43 Prozent. „Ich interpretiere die hohe Enthaltung als eine glühende Ermahnung, dass wir Erfolg haben müssen.“ sagte Philippe. Zwei Faktoren kommen bei der geringen Beteiligung zusammen: Einerseits galt das Ergebnis der Parlamentswahl schon Tage vor dem eigentlichen Urnengang als sicher. Niemand zweifelte mehr daran, dass die französischen Wähler ihrem neuen Präsidenten in der Nationalversammlung eine bequeme Mehrheit verschaffen würden, damit er ohne Blockade regieren kann.

Der zweite Faktor ist die wachsende Enttäuschung vieler Franzosen angesichts einer politischen Klasse, die in den vergangenen Jahren wenig getan hat, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und den Franzosen den Eindruck zu nehmen, dass ihr Land zum Opfer der Globalisierung wird.

Die amtierende Vorsitzende von REM Catherine Barbaroux räumte ein, dass auch ihre Bewegung selber unter dem Frust der Wähler leide. Viele Menschen, die noch bei der Präsidentschaftswahl Macron unterstützten, seien am Sonntag zu Hause geblieben. „Wir müssen uns nun noch mehr anstrengen, um zu motivieren, zu sammeln und zu ermutigen“ ermahnte Barbaroux ihre Parteifreunde.

Die Extremen von rechts und links versuchen, die hohe Enthaltung für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen, und es ist kein Wunder, dass sie wieder einmal übereinstimmen. „Welche Legitimität hat diese Mehrheit, wenn nur rund 40 Prozent der Wahlberechtigten teilgenommen haben?“ fragte Nicolas Bay, Generalsekretär des rechtsextremen Front National, der selber bereits im ersten Wahlgang rausgeflogen war. Der Linksaußen Jean-Luc Mélenchon haute in dieselbe Kerbe: „Diese Mehrheit hat keine Legitimität, um einen sozialen Staatsstreich vorzunehmen.“ Die Enthaltung sei ein „Generalstreik“, und er werde die Franzosen aus der Enthaltung in die Offensive führen: „Kein Meter der sozialen Rechte wird kampflos aufgegeben.“ Er sei die stärkste Kraft des Widerstands, plustere Mélenchon sich auf – dabei kommt er gerade auf 19 Abgeordnete, deren Legitimität von der niedrigen Wahlbeteiligung offenbar nicht berührt ist.

Links- wie Rechtsextreme, die selber schon lange zum politischen Establishment gehören, versuchen die niedrige Wahlbeteiligung zu nutzen, um ihre eigene Niederlage zu kaschieren. Nicht ihnen, sondern En Marche trauen die Franzosen die Erneuerung des Landes zu. Die Bewegung von Macron hat bereits einiges erreicht: Mit einem Frauenanteil von ungefähr 42 Prozent wird die Nationalversammlung sich zum ersten Mal der Geschlechter-Parität annähern, und noch nie waren die Abgeordneten im Schnitt so jung wie nach dieser Wahl.


Der Sieg verpflichtet


Am kommenden Wochenende werden die neuen En Marche-Abgeordneten – ungefähr die Hälfte von ihnen ist zum ersten Mal politisch aktiv, hat vorher noch nie an einer Wahl teilgenommen - sich in Paris versammeln, um über die wichtigsten Posten in der Fraktion und der Nationalversammlung zu entscheiden, sich eine Geschäftsordnung zu geben und die politischen Grundlagen für die Zusammenarbeit mit der Regierung zu bestimmen. Für die Führer der jungen Bewegung, die erst am 8. Juli ihren Gründungsparteitag veranstaltet, wird dies der Beginn eines schwierigen Weges. Zehntausende von Franzosen engagieren sich bei En Marche, weil sie das hierarchische politische System Frankreichs leid sind. Macron selber aber setzt die Praxis des Regierens von oben nach unten zunächst nahtlos fort.

So wird denn eine der ersten Amtshandlungen der neuen Mehrheit darin bestehen, auf eigene Vorrechte zu verzichten und der Regierung die Vollmacht zu erteilen, die Arbeitsmarktreform im Wege von Erlassen zu vollziehen. Bei diesem Verfahren gibt es keine Behandlung der Gesetze in den Ausschüssen der Nationalversammlung und auch keine ausführliche Debatte im Plenum. Voraussichtlich Ende September wird die Nationalversammlung allen Erlassen in einem Paket zustimmen.

Es ist verständlich und absolut legitim, dass Macron diesen Weg für die Arbeitsmarktreform wählt, weil er weiß, dass Frankreich auf rasche Veränderungen angewiesen ist. Wenn die Lage am Arbeitsmarkt sich schnell verbessern soll, dann darf die Regierung keine Zeit verlieren. Doch kann der junge Präsident sich nicht allzu bequem im breiten Sessel des Staatspräsidenten einrichten, ohne die Erwartungen seiner Anhänger zu enttäuschen. Sie wollen, dass er den Weg zu mehr politischer Teilhabe, zu mehr Beteiligungsmöglichkeiten einschlägt. Bei der Arbeitsmarktreform hat Macron mit einem besonderen Risiko zu kämpfen: 63 Prozent der Franzosen misstrauen ihm bei diesem Thema, teilte das Demoskopie-Institut ifop am Sonntagabend mit. Das verschafft Macrons Gegnern innerhalb und außerhalb des Parlaments potenziell einen großen Resonanzboden.

Die Nationalversammlung wird bunter zusammengesetzt sein, als man zuletzt erwartet hatte. Die konservativen Republikaner erleiden zwar eine krachende Niederlage, weil ihre ohnehin nicht üppige Fraktion erneut schrumpft und sie künftig voraussichtlich nur noch mit 125 Abgeordneten vertreten sein werden. Doch sie sind damit bei weitem die stärkste Kraft der Opposition. Die Sozialisten, die 2012 selber die absolute Mehrheit bekommen hatten, können nur noch etwas über 30 Deputierte nach Paris entsenden.

Premier Philippe brachte in seiner Ansprache auf den Punkt, auf was es nun ankommt: „Diese Mehrheit hat eine Mission, für Frankreich handeln. Der Sieg ist klar, und er verpflichtet uns.“

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