Nach Machtübernahme der Taliban In Afghanistan wird das Bargeld knapp

Geldwechsler auf dem Devisenmarkt in Kabul im Jahr 2018. Seit der Machtübernahme der Taliban wird das Bargeld langsam knapp. Quelle: imago images

Kurz nach der Machtübernahme der Taliban sind die Geldtöpfe Afghanistans bereits leer, viele Geldautomaten abgeschaltet. Wieviel Finanzinfrastruktur gibt es in dem gebeutelten Land überhaupt noch?

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Kaum an der Macht haben die Taliban bereits Probleme mit der Finanzierung des Staats: Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat Afghanistans Sonderziehungsrechte eingefroren, seit das Land keine international anerkannte Regierung mehr hat. Das bedeutet, dass dem Staat nun 340 Millionen Dollar fehlen. Sie sollten am 23. August nach Afghanistan fließen.

Der ehemalige afghanische Zentralbank-Gouverneur Ajmal Ahmady berichtet auf Twitter von Taliban, die von Angestellten der Da Afghanistan Bank (DAB) erfahren wollten, wo sich deren etwa neun Milliarden Dollar an Finanzreserven befänden. Diese liegen jedoch zum größten Teil bei der Federal Reserve in den USA – die an die Taliban wohl keinen Cent überweisen wird. Hilfszahlungen aus dem Ausland, sei es Entwicklungshilfe oder staatliche Darlehen, wurden ebenfalls größtenteils eingestellt.

Die Bevölkerung spürt das bereits. Dollar-Lieferungen aus den USA waren schon kurz vor dem Fall Kabuls an die Taliban gestoppt worden, wie Ahmady über Twitter erklärte. Am Freitag vor der Machtergreifung durch die Islamisten verbreiteten sich Gerüchte, Ahmady habe das Land verlassen. Prompt schossen die Bargeldabhebungen in die Höhe. Am Samstag musste die Notenbank die Bargeldlieferungen reduzieren, was den Bankansturm intensivierte. Die Banken haben inzwischen ihre Automaten geschlossen, weil die Notenbank sie nicht mehr mit Geld versorgen kann. Ohnehin hatten nach Schätzungen der Weltbank im Jahr 2018 nur etwa zehn Prozent der afghanischen Bevölkerung ein Bankkonto. Abseits der großen Städte, wo drei Viertel der Menschen in ländlichen Gebieten wohnen, gibt es kein geregeltes Bankensystem – Bargeld ist hier umso wichtiger.

Auch die Anbieter von Auslandsüberweisungen Western Union und Moneygram haben Zahlungen nach Afghanistan gestoppt. Geldsendungen von Verwandten und Freunden aus dem Ausland machten zuvor laut der Weltbank etwa vier Prozent des Bruttoinlandsproduktes Afghanistans aus. Dieses Geld fehlt nun ebenfalls.

Dabei haben die Taliban großes Interesse daran, die Banken am Laufen zu halten und die Wirtschaft nicht auszubremsen. Afghanistan-Experte Thomas Ruttig von Afghanistan Analysts berichtet: „Die Taliban haben die Privatbanken kontaktiert und reden mit ihnen, um den Betrieb wieder ans Laufen zu kriegen.“ Dass die Taliban in Kontakt mit Geldhäusern stehen, ist an sich nichts Neues. „Die Taliban besteuern schon länger alle Geschäfte, an die sie rankommen“, erläutert Ruttig. Bankangestellte versuchten indes, die Afghanen zu beruhigen: „Wartet mal ein paar Tage, dann kommt wieder was“.

Vorerst bleiben damit aber kaum regulierte Hawala-Systeme die einzige Möglichkeit, nun noch Geld in das Land zu schicken. Mangels einer verbreiteten Banken-Infrastruktur spielten sie schon vor der Übernahme durch die Taliban eine große Rolle im Finanzsystem. Hawala funktioniert wie eine rudimentärere Version der Sofortüberweisung: Der Sender geht zu einem der Hawala-Geschäftspartner, dem sogenannten Hawaladar. Diesem übergibt er Bargeld und zahlt eine kleine Provision. Der Händler übermittelt einem anderen Hawaladar einen zwischen Sender und Empfänger zuvor vereinbarten Code, unter dessen Nennung der Empfänger sich das Geld an einem fernen Ort dann abholen kann. Das Geld wird dabei nicht physisch verschickt, stattdessen werden die versendeten Beträge in regelmäßigen Abständen verrechnet und in einer großen Sammelüberweisung ausgeglichen. Das System basiert auf Vertrauen und sozialer Kontrolle: Ein Hawaladar, der seine Ausgleichszahlungen nicht leistet oder Geld nicht ausbezahlt, würde sofort aus dem System verstoßen und müsste mit schweren Konsequenzen rechnen.

Dadurch, dass keine Daten über Sender, Empfänger und transferierte Summe erfasst werden, eignet sich das Hawala-System gut für illegale Transaktionen im Drogenhandel und der Terrorismus-Finanzierung. In einem aktuellen Forschungspapier macht der Rechtswissenschaftler Haroun Rahimi von der American University of Afghanistan in Kabul aber auch klar, welche Bedeutung Hawala für die Wirtschaft Afghanistans hat: Gerade in ländlichen Gebieten ohne Finanzinfrastruktur ist es oft die einzige Möglichkeit für die Afghanen, Geschäfte auf Distanz abzuschließen oder Geld zu verschicken, ohne es persönlich transportieren zu müssen.

Rahimi spricht sich für eine Regulierung des Systems aus, die zwar die kriminellen Machenschaften bekämpfen, aber die Gesamtwirtschaft nicht in ihren Handlungsmöglichkeiten einschränken sollte. Er fordert eine Finanzinfrastruktur, die ihre funktionierenden informellen Systeme – wie Hawala – in formelle, regulierte Systeme überführt, anstatt andere Finanzsysteme zu etablieren, die die Bevölkerung stattdessen nutzen soll. Banken sind in Afghanistan nie eine Masseninstitution geworden, ein reguliertes Hawala-System unter staatlicher Kontrolle hätte hier womöglich den Zugang zu finanziellen Mitteln für die ländliche Bevölkerung verbessert – und dabei die effektive Bekämpfung von Terrorismus und Drogenhandel ermöglicht, die nun abseits des Bankensystems im Verdeckten weiterliefen.

Von einem regulierten, stabilen Finanzmarkt ist das Land nach der Übernahme der Taliban nun weiter entfernt denn je. Denn das Hawala-System ist zwar in sich geschlossen und funktioniert auch ohne Zuschuss von außen. Doch ganz ohne Geld, das im System umhergeschoben wird, kommt es nicht aus. Idealerweise sind das Dollar, denn die Landeswährung Afghani schwankt angesichts des Chaos im Land stark. Am Tag der Machtübernahme kostete ein Dollar zwischenzeitlich 100 Afghani – zuvor waren es trotz bereits erfolgter Abwertung noch etwa 80 Afghani gewesen.

Das grundlegende Problem, dass das nun finanziell von der Außenwelt abgeschnittene Afghanistan von Dollarzahlungen aus dem Ausland abhängig ist, können die Hawaladare also auch nicht lösen. Daten der Weltbank zeigen: 42,9 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) kamen 2020 als Hilfszahlungen aus dem Ausland. Ein BIP von 19,8 Milliarden Dollar bei einer geschätzten Bevölkerung von fast 39 Millionen Menschen ergibt ein Pro-Kopf-Einkommen von gerade einmal 508 Dollar. Damit ist die afghanische Bevölkerung die siebtärmste auf der Welt. 44 Prozent der arbeitenden Bevölkerung sind in der unterentwickelten Landwirtschaft beschäftigt und erwirtschaften dabei weitere 27 Prozent des BIP, sechs von zehn Haushalten beziehen zumindest einen Teil ihres Einkommens aus dem Ackerbau. Aus der Industrie stammt nur etwa ein Fünftel der Einnahmen in Afghanistan, über die Hälfte des BIP wird im Service-Sektor verdient – also vor allem auch von durch Hilfszahlungen finanzierte Verwaltungsangestellte.

Und dann ist da noch der in Zahlen kaum erfasste Drogensektor, die Produktion von und der Handel mit Schlafmohn und den aus ihm gewonnenen Suchtmitteln Opium und Heroin. Zwischen 1,2 und 2,1 Milliarden Dollar liegen die Schätzungen zum Gewinn, der mit Opiaten und ihren Vorprodukten im Jahr 2019 erwirtschaftet wurde. Das entspräche 7 bis 12 Prozent des BIP, in dem diese Beträge aber nicht einbezogen sind. Es ist nicht zu erwarten, dass die Taliban den Drogenhandel begrenzen werden, nachdem sie der Versuch des Verbots während ihrer letzten Herrschaft von 1996 bis 2001 viele Sympathien in der Bevölkerung kostete. Außerdem treffen internationale Sanktionen illegale Geschäftsfelder deutlich weniger, weil die Gelder an den offiziellen Systemen vorbeifließen. Doch wo bekommen die Bürger Afghanistans ihre Einkünfte nun eigentlich physisch ausgezahlt?

Das interessiert WiWo-Leser heute besonders

Geldanlage Das Russland-Risiko: Diese deutschen Aktien leiden besonders unter dem Ukraine-Krieg

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine belastet die Börsen. Welche deutschen Aktien besonders betroffen sind, zeigt unsere Analyse.

Krisenversicherung Warum Anleger spätestens jetzt Gold kaufen sollten

Der Krieg in der Ukraine und die Abkopplung Russlands von der Weltwirtschaft sind extreme Inflationsbeschleuniger. Mit Gold wollen Anleger sich davor schützen – und einer neuerlichen Euro-Krise entgehen.

Flüssigerdgas Diese LNG-Aktien bieten die besten Rendite-Chancen

Mit verflüssigtem Erdgas aus den USA und Katar will die Bundesregierung die Abhängigkeit von Gaslieferungen aus Russland mindern. Über Nacht wird das nicht klappen. Doch LNG-Aktien bieten nun gute Chancen.

 Was heute noch wichtig ist, lesen Sie hier

Thomas Ruttig erzählt von der Saray-e Shazada, einem mehrstöckigen Betonbau in Kabul, in dem viele Geldwechsler, Hawaladare und Kreditgeber sitzen – das informelle Bargeldzentrum der afghanischen Hauptstadt. Aktuell gibt es auch hier nichts zu holen. „Man muss gucken, wo die ihr Cash herbekommen haben“, erklärt Ruttig. Wenn das Geld aus den USA kam, könne es sein, dass bald gar nichts mehr komme. „Wenn es aus Pakistan oder Dubai kommt, vielleicht schon. Aber die sind auch nicht unverletzlich“, mahnt er, und verweist auf die Sanktionslisten der UNO, der USA und der EU. „Diese Organisationen haben Werkzeuge, das zu unterbinden und auch Banken aus Dubai zum Mitmachen zu bewegen.“

Wann und in welchem Umfang wieder Geld ins Land fließt, bleibt also fraglich. Auf der Facebook-Seite des Finanzministeriums hieß es in der Nacht zu Sonntag, die Zentralbank, private Banken und andere Finanzinstitutionen nähmen bald wieder ihren Betrieb auf. Gleichzeitig wurde das „technische Personal“ des Ministeriums aufgerufen, zur Arbeit zurückzukehren. Andere Ministeriumsmitarbeiter sollten eine Entscheidung der Finanzkommission der Taliban abwarten. „Es steht einfach erstmal alles auf Pause gerade und man muss sehen, wie es weitergeht“, schließt Ruttig.

Mehr zum Thema: Die Machtergreifung der Taliban in Afghanistan ist geostrategisch katastrophal. Das Desaster des Westens ist Chinas Chance in Afghanistan, an die Rohstoffe des Landes zu kommen.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%