Nach Protesten Armenier wollen ein neues Land, „aus dem niemand mehr flüchten muss“

In dem kleinen Kaukasusstaat protestieren die Menschen und wollen Armut, Arbeitslosigkeit und Vetternwirtschaft endlich hinter sich lassen.

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Fast zwölf Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze von nur 1530 Dram (2,70 Euro) oder weniger am Tag. Quelle: AP

Lusagjugh Einmal im Monat tauchte der örtliche Steuerprüfer in dem kleinen Fischerdorf von Alik Stepanjan auf. Jedes Mal zahlte Stepanjan ihm zur Bestechung 15 bis 20 Fische, um seinen kleinen Betrieb im Dorf Lusagjugh am Laufen zu halten. Im vergangenen Jahr gab der armenische Bauer auf.

„Ich bin einfach wütend geworden und habe zugemacht“, erzählt der 56-Jährige. „Ich hatte die Nase voll davon, Schmiergeld zahlen zu müssen. Ich hoffe, die neue Regierung wird etwas gegen Korruption und Armut unternehmen, die uns schaden und uns das Leben schwermachen.“

Diese beiden Probleme waren es auch, die Massenproteste in dem Kaukasusstaat auslösten und schließlich zum Rücktritt von Ministerpräsident Sersch Sargsjan führten. Er hatte das Land zehn Jahre lang als Präsident geführt. Doch als er wegen einer Begrenzung der Amtszeiten nicht mehr zur Wiederwahl antreten durfte, setzte er eine Verfassungsänderung durch: Seitdem ist der Posten des Ministerpräsidenten der einflussreichste in Armenien.

Das Parlament wählte Sargsjan im April zum Regierungschef. Der Schritt wurde als Versuch des 63-Jährigen gedeutet, unbefristet an der Macht zu bleiben. Unter Führung des ehemaligen Journalisten und Abgeordneten Nikol Paschinjan gingen Zehntausende empörte Armenier auf die Straße.

Nach zweiwöchigen Protesten in der Hauptstadt Eriwan trat Sargsjan am 23. April zurück. Nach dem Willen der Opposition soll Paschinjan neuer Ministerpräsident werden. Auch die Regierungspartei hat inzwischen Unterstützung für ihn signalisiert, unter der Bedingung, dass die Proteste dann aufhören. Paschinjan rief zu einem Ende der Demonstrationen auf.

Eine Agenda oder konkrete politische Forderungen hat der Oppositionsführer bislang nicht vorgelegt. Paschinjan spricht sich nur allgemein für den Sturz der Regierungselite aus, die viele Armenier für Vetternwirtschaft und Korruption verantwortlich machen.

Doch seine Parolen kommen vor allem in den verarmten ländlichen Regionen von Armenien gut an. Das Land ist einer der ärmsten ehemaligen Sowjetstaaten. Fast zwölf Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze von nur 1530 Dram (2,70 Euro) oder weniger am Tag.

Das Binnenland zwischen Georgien, dem Iran, der Türkei und Aserbaidschan war seit dem Zerfall der Sowjetunion von Energie und Krediten aus Russland abhängig. Das Verhältnis zur Türkei und zu Aserbaidschan ist belastet, was die Entwicklung Armeniens lähmte. Vor allem Energie-Importe sind teuer.

In Dörfern wie Lusagjugh, rund 60 Kilometer nördlich der Hauptstadt, sind Armut und Arbeitslosigkeit besonders sichtbar. Jobs sind Mangelware in dem malerischen 900-Einwohner-Ort am Fuße des Aragaz, des höchsten Bergs in Armenien. Die Menschen hier leben von Gemüseanbau und Viehzucht.

Stepanjans sechsköpfige Familie kommt über die Runden dank ihrer zwei Kühe, eines Gemüsebeets und der Rente von Stepanjans Mutter in Höhe von 60.000 Dram (105 Euro) im Monat. Stepanjans älteste Tochter fährt regelmäßig nach Russland, um als Putzfrau oder Babysitterin zu arbeiten.

Auch ihr Vater hat dort früher immer wieder Polsterarbeiten übernommen. Vor einigen Jahren bekam er aber Heimweh und kehrte in sein Dorf zurück, um einen Fischereibetrieb zu gründen.

Sofort bekam Stepanjan es mit Steuerprüfern zu tun: Sie verlangten ein so hohes Bestechungsgeld, wie er es niemals hätte verdienen können mit dem kleinen Fischteich, den er auf seinem Grundstück angelegt hatte. Er erklärte sich bereit, dem örtlichen Steuerinspektor Fische statt Bargeld zu geben. Doch nach einigen Monaten fiel sein Fang immer knapper aus, zahlen musste er aber weiterhin. Daraufhin entschied sich der 56-Jährige, seinen Betrieb wieder dichtzumachen.

So wie Stepanjans Tochter arbeiten viele Armenier im Ausland, um ihre Familie zuhause zu unterstützen. Ihre Überweisungen machen etwa 14 Prozent des armenischen Bruttoinlandsprodukts aus. In Lusagjugh steht ein Viertel aller Häuser leer, weil die Dorfbewohner auf der Suche nach Arbeit nach Russland gegangen sind.

Der 20-jährige Samwel Sakarjan, der in Eriwan studiert, kehrte kürzlich in den Ferien nach Lusagjugh zurück, um seiner Familie bei einigen Arbeiten zu helfen. Fünf seiner Freunde und sein älterer Bruder arbeiten wegen der schlechten Jobchancen in Armenien inzwischen in Russland, wie er erzählt.

Sakarjan hatte sich an den Protesten in der Hauptstadt beteiligt und unterstützt Paschinjan. „Ganze Generationen von Armeniern sind in der Hoffnung auf ein besseres Leben ins Ausland gegangen“, erzählt der junge Mann, während er die Kaninchen und die beiden Kühe füttert, von denen die Familie lebt. „Jetzt gewinnen wir endlich Zuversicht, dass wir uns in unserem eigenen Land ein besseres Leben aufbauen können, ein neues Armenien, aus dem die Menschen nicht mehr flüchten.“

Nach Angaben des UN-Bevölkerungsfonds leben aktuell etwa 900.000 gebürtige Armenier im Ausland. Mehr als zehn Prozent der insgesamt drei Millionen Einwohner haben das Land in den zehn Jahren verlassen, in denen Sargsjan an der Macht war.

Die Auswanderung habe dabei als eine Art Ventil gedient, erklärt Ruben Megrabjan vom Armenischen Zentrum für Internationale Studien. Unzufriedene Bewohner hätten das Land verlassen, während der Sargsjan-Clan dort seine Macht weiter gefestigt habe.

In Lusagjugh setzt Bauer Stepanjan heute seine Hoffnungen in die Opposition. „Es wird uns besser gehen, wenn die Korruption beseitigt ist“, sagt der 56-Jährige, während er an einem Lagerfeuer sitzt. „Das ist es, was die Opposition will, und das ist eine legitime Forderung.“

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