Nach Säuberungsaktion beim Militär Erdogan gehen die Kampfpiloten aus

Hunderte erfahrene Luftwaffenpiloten ließ der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan nach dem Putschversuch vom Juli 2016 aus dem Militär entfernen. Jetzt suchen die Luftstreitkräfte händeringend neue Kampfflieger.

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Der türkische Präsident hat viele Kampfpiloten entlassen, da er sie verdächtigt, mit seinem Erzfeind Gülen in Verbindung zu stehen. Quelle: AP

Athen Mehr als 11.000 Soldaten hat Präsident Erdogan im Rahmen der „Säuberungen“ bei den türkischen Streitkräften gefeuert, darunter 169 der 326 Generäle. Während der Kahlschlag im Generalstab vielleicht noch zu verkraften ist, weil es nach Aussage des früheren Verteidigungsministers Fikri Isik ohnehin „zu viele Generäle“ gab, ist vor allem bei der türkischen Luftwaffe die Personaldecke inzwischen dünn geworden. Nach Angaben der regierungsnahen Zeitung „Yeni Safak“ wurden 380 der 1350 Piloten gefeuert.

Die Folge: Die Luftwaffe hat für ihre 240 Kampfjets des Typs F-16 und die 49 älteren Flugzeuge vom Typ F-4 Phantom nicht mehr genug Flugzeugführer. Kamen vor dem Putschversuch 1,5 Piloten auf ein Flugzeug, sind es jetzt, trotz einiger Neueinstellungen, nur noch 0,8 Piloten. Die türkischen Luftstreitkräfte hätten infolge des Putschversuchs „einen riesigen Anteil ihrer Erfahrung und ihres Know-how verloren“, sagte der Militärexperte Arda Mevlutoglu der Nachrichtenagentur Reuters.

Die Streitkräfte versuchen zwar, neue Piloten anzuwerben. Aber das stößt auf Schwierigkeiten, weil es nach den „Säuberungen“ auch nicht mehr genug erfahrene Fluglehrer gibt. Das Verteidigungsministerium begab sich deshalb im Ausland auf die Suche. Pakistan erklärte sich zwar bereit, Fluglehrer für das F-16-Training in die Türkei zu entsenden. Der Plan scheiterte aber am Einspruch der USA. Die Lieferverträge der ursprünglich vom US-Hersteller General Dynamics entwickelten und inzwischen in der Türkei in Lizenz montierten Jets sehen vor, dass Wartungs- und Trainingsvereinbarungen mit Drittländern der Genehmigung der US-Regierung bedürfen – die in diesem Fall verweigert wurde.

Ein Angebot Washingtons, die türkischen F-16-Piloten in den USA auszubilden, lehnte wiederum Ankara ab. Offiziell heißt es, die Piloten sollten im eigenen Land trainieren, um sich mit der türkischen Topografie vertraut zu machen. Früher hat die Türkei allerdings durchaus Flugschüler in die USA geschickt. Möglicherweise fürchtet man jetzt, dass angehende Kampfpiloten dort unerwünschten politischen Einflüssen ausgesetzt wären. Schließlich lebt der Erdogan-Erzfeind Gülen im Exil im US-Bundesstaat Pennsylvania.

Gülen soll in den türkischen Luftstreitkräften besonders viele Anhänger gehabt haben. Seit Anfang August wird in einem Massenprozess in Ankara gegen 486 Angeklagte verhandelt, die an der Planung und Ausführung des Putschversuchs beteiligt gewesen sein sollen. Unter ihnen ist der inzwischen abgesetzte Luftwaffenchef Akin Öztürk. Auf der Anklagebank sitzen auch mehrere Jet-Piloten, die in der Putschnacht mit F-16-Kampfflugzeugen vom Luftwaffenstützpunkt Akinci bei Ankara starteten, um das Parlamentsgebäude und den Präsidentenpalast zu bombardieren. Die Basis Akinci war eine Art Hauptquartier der Putschisten.


Präsidentenmaschine tarnte sich als Linienflug

Von dort starteten in der Putschnacht auch zwei F-16-Piloten und nahmen mit ihren Maschinen Kurs auf die Westtürkei. Ihr Befehl: Sie sollten den Regierungsjet abschießen, mit dem Staatschef Erdogan von seinem Urlaubsort Marmaris in jener Nacht unterwegs nach Istanbul war. Die Kampfpiloten machten den Erdogan-Jet zwar aus, feuerten aber ihre Raketen nicht ab.

Das schien zunächst rätselhaft. Später klärte sich, warum die Piloten zögerten: Die Regierungsmaschine war zur Tarnung unter der Kennung eines Turkish Airlines-Linienflugzeugs unterwegs. Die F-16-Piloten fürchteten offenbar, versehentlich ein Verkehrsflugzeug abzuschießen. Als Linienmaschine getarnt, konnte der Erdogan-Jet in Istanbul landen, obwohl die Putschisten dort noch die Kontrolle hatten.

Auf der Basis Akinci wurde nach dem Scheitern des Putsches auch der Geistliche Adil Öksüz festgenommen, ein angeblicher Gülen-Vertrauter, der als „Imam der Luftwaffe“ eine zentrale Rolle bei den Putschvorbereitungen gespielt haben soll. Öksüz wurde kurz nach seiner Festnahme auf Beschluss eines Richters freigelassen. Er konnte fliehen und soll sich über Armenien nach Deutschland abgesetzt haben, wo ihn mehrere Augenzeugen in Ulm und Frankfurt erkannt haben wollen. Die Türkei verlangt von Berlin Auskunft über den Aufenthalt des Geistlichen und fordert seine Auslieferung.

Die Gülen-Bewegung soll seit Jahren versucht haben, die Luftstreitkräfte zu unterwandern. Das geht aus Ermittlungen des Generalstaatsanwalts von Ankara hervor. So sollen Gülen-treue Ärzte im Militärhospital Gülhane bei den vierteljährlichen fliegerärztlichen Untersuchungen Kampfpiloten unter Hinweis auf angeblich problematische Kreislaufwerte und unzureichendes Sehvermögen für fluguntauglich erklärt haben, um an ihrer Stelle Mitglieder des Gülen-Netzwerks in die Cockpits der Kampflugzeuge einzuschleusen. Jetzt wollen die Streitkräfte Piloten, die in den vergangenen Jahres die fliegerärztlichen Tests nicht bestanden, erneut untersuchen lassen – in der Hoffnung, so einen Teil der freien Stellen besetzen zu können.

Außerdem versucht das Verteidigungsministerium, Piloten zur Rückkehr zu bewegen, die in den vergangenen Jahren in die zivile Luftfahrt wechselten. Allein bei der Staatslinie Turkish Airlines fliegen nach Aussage des Präsidenten Ilker Ayci rund 800 ehemalige Militärpiloten. Aber die Zahl der Rückkehrer war bisher sehr überschaubar. Nur etwa 50 Bewerber hätten sich gemeldet, schreibt „Yeni Safak“. Kein Wunder: Die Luftwaffe zahlt ihren Kampfpiloten umgerechnet etwa 3000 Dollar im Monat. In der Verkehrsfliegerei können sie erheblich mehr verdienen.

Nachdem die Rückkehr-Appelle wenig bewirkten, macht die Regierung jetzt Druck. Bisher konnten Militärpiloten nach zehn Dienstjahren in die zivile Luftfahrt wechseln. Mit einem Ende August von Staatschef Erdogan erlassenen Notstandsdekret wird diese Frist jetzt auf 18 Jahre verlängert. Die Besonderheit: Die Regelung gilt rückwirkend. Deshalb müssen frühere Kampfpiloten, die jetzt in den Cockpits von Passagiermaschinen sitzen, mit einem Rückruf rechnen. 

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