Nahost-Experte Bassam Tibi Es gibt keine Lösung für den Syrien-Krieg

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Irregulärer Krieg und globale Religionisierung der Gewalt

So entsteht ein Zusammenhang zwischen irregulärem Krieg und globaler Religionisierung der Gewalt, den Politiker und „Experten“ oft nicht begreifen. Ich staune, dass die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, eine Medizinerin ohne Ahnung von Sicherheitspolitik, selbstbewusst verkündet, den IS mit AWACS-Flugzeugen aus der Luft besiegen zu können. Auch die russische Luftwaffe wird den IS nicht eliminieren, sondern nur schwächen können.

Das hätten die Russen eigentlich aus dem irregulären Krieg in Afghanistan lernen müssen. Russische, amerikanische und westeuropäische Militärs könnten aus den israelischen Erfahrungen mit irregulären Kriegen viel lernen. Zwischen 1948 und 1982 siegte Israel in fünf zwischenstaatlichen Kriegen. Aber in den vergangenen zehn Jahren sind die israelischen Streitkräfte an den Djihadisten von Hamas und Hisbollah in Gaza und im Libanon gescheitert.

Das ist die Logik des modernen irregulären Krieges, den ich mit den beiden Kriegsforschern Kalevi Holsti (Kanada) und Martin van Creveld (Israel) in den vergangenen zwanzig Jahren beleuchtet habe. In Deutschland wird ein Politologe namens Herfried Münkler, der diese wissenschaftliche Diskussion einfach übergeht, seit seinem Buch „Die neuen Kriege“ (2002) als origineller Denker des „asymmetrischen Krieges“ präsentiert.  Das ist einfach falsch. Andere haben das Ende des zwischenstaatlichen und das Erscheinen des irregulären Krieges mit anderen Begriffen vorausgesehen.

Münkler übersieht die Bücher über die nichtstaatlichen Kriege von Holsti (1996), von van Creveld (1991) und von Tibi („Conflict and War in the Middle East. From Interstate War to new Security, Harvard 1993, erweitert 1998). Wenn ich seine Äußerungen über den Nahen Osten und Syrien vernehme, kann ich als internationaler Nahost-Experte nur schmunzeln.

Nicht nur die Pseudo-Experten und ihr Geschwätz vom Stellvertreterkrieg sind empörend, sondern auch die USA und EU: Der Verursacher des Krieges in Syrien ist nicht der IS, der nur ein Nebenprodukt des Krieges ist. Die Ursache des Krieges ist eine mehr als vierzigjährige Unterdrückung der sunnitischen Bevölkerung Syriens durch die alawitische Minderheit. Daher ist die westliche Annahme, der Krieg werde enden, wenn der IS besiegt ist, grundfalsch. Eine Lösung des Konfliktes muss umfassend und multidimensional sein. Es kann sie derzeit nicht geben, weil die Rahmenbedingungen eines protracted conflict sie nicht zulassen. 

Ein solcher Konflikt ist deshalb nicht lösbar, weil die militärischen Fronten diffus sind und buchstäblich jede Woche neue militärische Allianzen entstehen. Keine der Parteien kann über die anderen siegen und eine friedliche Lösung ist unmöglich, weil es keine klar definierbaren Akteure als „Negotiators“ gibt.

Der Bericht über die Türkei als „zentrale Aktionsplattform“ für Islamisten überrascht nicht. Die AKP war stets islamistisch. Ihr eigentlicher Gegner ist nicht die Gülen-Bewegung sondern der säkulare Kemalismus.

Eine effektive Konfliktlösung für Syrien muss die folgenden drei Ebenen des Konfliktes in den Griff bekommen: 

Intern: Alawiten kämpfen gegen Sunniten; beide Gemeinschaften können nicht mehr in einem Land zusammenleben. Jeder Syrer muss heute ein Gewaltmensch sein, um in einer Situation des „Krieges aller gegen alle“ zu überleben.

Regional: Die sunnitischen Staaten Türkei, Saudi-Arabien und Katar, sowie die schiitischen Staaten Iran und Irak mischen auf allen Ebenen mit.

International: Neben der mörderischen Luftwaffe der USA hat sich die russische Luftwaffe blutig profiliert. Putin zwingt sich dem Westen als wichtiger Spieler im Konflikt auf, nicht zuletzt, um vom Ukraine-Konflikt abzulenken.

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