Warum sind die Prediger so wichtig für die Machthaber?
Die Schriftgelehrten haben die Aufgabe, die Legitimität der Machthaber gegenüber dem Volk zu unterstreichen. Insofern ist jede Kritik am Islam, an der islamischen Geschichtsdeutung, an der Herleitung bestimmter Verse des Koran immer auch Kritik an den Säulen der politischen Macht.
Am Ende Ihres Buches steht ein düsterer Ausblick für das Jahr 2026: Der Bürgerkrieg in Syrien wird weiter toben, mehr und mehr Nationalstaaten in der Region werden zerbrechen, radikale Kräfte aufseiten der Sunniten und Schiiten an Boden gewinnen, der islamistische Terror in der westlichen Welt zunehmen. Was macht Sie so pessimistisch?
Ursprünglich hatte ich zwei Szenarien aufgeschrieben, eines war positiver. Aber das habe ich ad acta gelegt, weil es unrealistisch ist. Ich habe 15 Jahre in verschiedenen Ländern im Nahen Osten gelebt und so weh mir das tut – ich sehe keinen Anlass für Optimismus.
Warum?
Es gibt kaum Aussicht auf Lösung des sunnitisch-schiitischen Konflikts, denn sowohl Saudi-Arabien als auch der Iran sind auf Konfrontationskurs. Die konfessionell heterogenen Nationalstaaten zerfallen weiter, es gibt kaum noch funktionierende nationalistische Ideologien, die den Menschen im Nahen Osten die Vision einer nationalen Einheit von Sunniten und Schiiten glaubhaft machen können. Der Westen ist gelähmt und hat in der Region keine verlässlichen Partner mehr. Alle unsere Verbündeten verfolgen egoistische Machtinteressen, die sich nicht mit der Stabilisierung der Region in Einklang bringen lassen. Ich sehe daher auf absehbare Zeit keine friedliche Lösung.
Der IS ist mittlerweile auf ein Drittel seines früheren Territoriums zurückgedrängt worden. Sollte das nicht Anlass zur Hoffnung geben?
Ich sehe, dass der IS in den letzten Monaten massiv an Territorium verloren hat. Aber wir sollten den IS weder politisch noch militärisch abschreiben. Sein Hauptoperationsgebiet ist weiterhin sein Stammland im Norden des Iraks, wo er die Kontrolle über die Zwei-Millionen-Stadt Mossul hat. Im Augenblick wird eine Schlussoffensive der Kurden, der Schiiten und der Zentralregierung in Bagdad geplant. Aufgrund des starken Rückhalts des IS in der sunnitischen Bevölkerung von Mossul sehe ich aber kaum Aussicht auf Erfolg. Schiitische Milizen haben bei jeder Rückeroberung von IS-Territorien Tausende Zivilisten als vermeintliche IS-Kollaborateure hingerichtet. Das schürt Ängste und stärkt den IS.
Terroristische Einzeltäter in Europa
Ein Islamist ersticht im Umland von Paris einen Polizisten und verschanzt sich in dessen Haus. Die Polizei stürmt das Gebäude und erschießt den Täter. Später wird dort auch die Lebensgefährtin des Opfers tot aufgefunden.
Ein 25-jähriger Marokkaner eröffnet in einem Zug von Amsterdam nach Paris das Feuer und wird von mehreren Fahrgästen überwältigt. Die Pariser Staatsanwaltschaft geht von terroristischen Motiven aus.
Ein 35-Jähriger wird überwältigt, als er in einem Industriegas-Werk bei Lyon eine Explosion verursachen will. Er hatte zuvor seinen Arbeitgeber enthauptet und den Kopf mit zwei Islamisten-Flaggen auf den Fabrikzaun gesteckt.
Ein arabischstämmiger 22-Jähriger feuert in Kopenhagen auf ein Kulturcafé. Ein Mann stirbt. Vor einer Synagoge erschießt der Attentäter einen Wachmann, bevor ihn Polizeikugeln tödlich treffen.
In Brüssel erschießt im Jüdischen Museum ein französischer Islamist vier Menschen. Kurz darauf wird er festgenommen. Als selbst ernannter „Gotteskrieger“ hatte er zuvor in Syrien gekämpft.
Ein junger Kosovo-Albaner erschießt auf dem Flughafen Frankfurt/Main zwei US-Soldaten und verletzt zwei weitere schwer. Der Mann gilt als extremistischer Einzeltäter.
Der norwegische Rechtsterrorist Anders Behring Breivik tötet bei zwei Anschlägen insgesamt 77 Menschen. Er zündet zuerst eine Bombe im Osloer Regierungsviertel und erschießt dann 69 meist jugendliche Teilnehmer eines sozialdemokratischen Ferienlagers.
Was bedeutet ein weiterer Zerfall des Nahen Ostens für Europa?
Wir müssen mit weiteren, noch größeren Fluchtbewegungen rechnen. Die Fluchtursachenbekämpfung der Kanzlerin kommt nicht voran. Gleichzeitig wächst die Bevölkerung in all diesen Ländern enorm – in den meisten Ländern des Nahen Osten sind 60 Prozent der Bevölkerung unter 25 Jahre alt. Für sie gibt es zu wenige Arbeitsplätze, Schulplätze und auch die infrastrukturelle Versorgung ist kurz vor dem Erliegen. Die Lebensumstände der Menschen dort werden immer prekärer. Angesichts Krisen und Kriegen sehen viele nur zwei Optionen: sich radikalen Gruppen anzuschließen oder die Flucht gen Westen. Europa bleibt letztlich nichts, als den Vertriebenen mehr humanitäre Hilfe zukommen zu lassen – insbesondere in Jordanien, im Libanon und in der Türkei.