Nahost-Experte Wilfried Buchta "Syrien-Konflikt dauert noch mindestens zehn Jahre"

Der Bürgerkrieg in Syrien wird noch lange anhalten, glaubt Nahost-Experte Wilfried Buchta. Warum er kaum Hoffnung für die Region hat und welche Rolle Saudi-Arabien und der Iran in den Konflikten spielen.

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Quelle: REUTERS

Herr Buchta, seit fünf Jahren tobt der syrische Bürgerkrieg, Millionen Menschen sind auf der Flucht, Hunderttausende wurden getötet. Erstmals seit Wochen hat der syrische Präsident Baschar al-Assad nun die Luftangriffe auf Aleppo eingestellt. Besteht für die Bevölkerung Anlass zur Hoffnung?
Wilfried Buchta: Nein, der Stopp der Luftangriffe auf Aleppo verschafft der Bevölkerung dort höchstens eine Atempause, leitet aber keinen Strategiewechsel des Assad-Regimes ein. Assad will die Stadt zurückerobern, zumal dies für sein Alawiten-Regime ein enormer symbolischer Sieg über die sunnitische Opposition wäre. Gleichzeitig würde es die Vertreibung oder den Tod Hunderttausender Sunniten bedeuten, aber das nimmt Assad billigend in Kauf. Aleppo war einst das Handels- und Wirtschaftszentrum Syriens, jetzt ist es nur noch eine Trümmerwüste.

Warum diese unfassbare Gewalt gegen Zivilisten?
Das Alawiten-Regime vertreibt und tötet mit den Luftschlägen sunnitische Zivilisten, um die eigene Machtbasis zu stärken. Das ist Kalkül einer konfessionellen Kriegsführung. Die sunnitischen Salafisten-Milizen gehen in den von ihnen eroberten Gebieten ähnlich vor. Assad betreibt die konfessionelle Säuberung aktuell nur mit mehr Härte und Erfolg.

Dank russischer Rückendeckung.
Die Russen sind eine der fünf Veto-Mächte im UN-Sicherheitsrat - solange sie mitmischen, sind der Weltgemeinschaft die Hände gebunden. Wir können an die Russen appellieren, sie an ihre humanitäre Verantwortung erinnern, aber der Westen hat nicht genug Einfluss auf Putin, um ihn davon abhalten, Assad weiter zu unterstützen.

Neben Russland hält der Iran Assads Kriegsmaschinerie am Laufen. Welche Ziele verfolgt Teheran?
Für das iranische Regime ist Syrien ein wichtiger geostrategischer Verbündeter und ein unverzichtbarer Territorial- und Versorgungskorridor zu der vom Iran unterstützten Hisbollah im Libanon. Über Syrien und Libanon hat der Iran Zugang zum Mittelmeer und kann mitspielen im großen, prestigeträchtigen Nahostkonflikt zwischen den Israelis und Arabern. Der Iran kann sich nicht erlauben, dass syrische Assad-Regime fallen zu lassen.

Wilfried Buchta ist promovierter Islamwissenschaftler. Von 2005 an war er im Rahmen einer UN-Mission fünf Jahre im Irak. Insgesamt wohnte er rund 15 Jahre in verschiedenen Ländern des Nahen Osten. Quelle: Privat

Warum nicht?
Das würde sowohl Irans Hegemonialmachtanspruch untergraben als auch den politischen Einflussgewinn der Iraner im Irak gefährden. Denn in Bagdad dominieren seit dem misslungenen amerikanischen Demokratieexperiment unter George W. Bush schiitische Kräfte, die mehrheitlich wiederum aufs Engste an das Regime im Iran angebunden sind.

Sie schreiben in Ihrem Buch, im Irak herrsche aktuell eine demokratisch-legitimierte Mehrheitsdiktatur. Was meinen Sie damit?
60 Prozent der Bürger im Irak sind schiitische Araber. Die sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte dort an der Macht war, wird heute unterdrückt. Die Schiiten stellen – solange sie sich vor den Wahlen immer wieder zu einer Koalition zusammenschließen – den Regierungschef, kontrollieren alle Schlüsselministerien, den Geheimdienst, die Polizei. Hingegen werden die sunnitischen Kräfte mittels willfähriger sunnitischer Erfüllungsgehilfen ohne reale Macht nur pro forma an der Regierung beteiligt.

"Es herrscht ein erbitterter kalter Krieg"

Die Nähe des Iraks zum Iran ist aus Sicht Saudi-Arabiens, der Schutzmacht der Sunniten  und des größten Widersachers des Irans, eine große Gefahr. Was befürchten die Saudis?
Saudi-Arabien steht mit dem Iran in einem Konflikt um die Rolle der führenden Hegemonial-Macht im Nahen Osten. Sie fürchten, dass sich der politische Einflussgewinn der Iraner in Syrien und im Irak dauerhaft verfestigt und zu einer Dominanz der Schiiten im ganzen Nahen Osten führt. Deswegen kämpft Saudi-Arabien mit allen Mitteln dagegen an.

Die Akteure im Syrien-Konflikt

Konkreter?
Seit den Fünfziger- und Sechzigerjahren verbreitet Saudi-Arabien, gestützt auf Milliarden an Petrodollars, mit Erfolg seinen extrem unduldsamen wahhabitischen Islam. So finanziert es Tausende salafistischer Moscheen in aller Welt, aber auch salafistische und dschihadistische Milizen, darunter auch die, die gegen Assad kämpfen. Saudi-Arabien will eine salafistische Regierung in Syrien an der Macht sehen. Umgekehrt verfahren die Iraner genauso und finanzieren und bewaffnen schiitische Milizen, sei es im Irak, Libanon, Syrien und Jemen. Es herrscht ein erbitterter kalter Krieg zwischen beiden Mächten, die  jedoch tunlichst vermeiden direkt miteinander in einen leicht eskalier fähigen Konflikt zu geraten. Stattdessen benutzen sie Stellvertreter.

Schiiten und Sunniten

Der Wahhabismus der Saudis ist eine besonders aggressive und intolerante Spielart des Islams. Hat dessen Verbreitung in aller Welt durch die Saudis zum Aufstieg des IS beigetragen?
Saudi-Arabien hat den IS nicht direkt und aktiv unterstützt, aber die Ideologie des Wahhabismus ist zu 98 Prozent identisch mit dem, was der IS religiös vertritt und politisch will. Der einzige große Unterschied besteht darin, dass der IS die Monarchie als Prinzip und damit auch den Herrschaftsanspruch der Königsfamilie Saud entschieden ablehnt.  Der IS will ein Kalifat. Abgesehen davon setzen Wahhabisten wie Salafisten aber gleichermaßen auf die Ablehnung aller anderen Religionen und die Ausgrenzung von religiösen Minderheiten innerhalb des Islams. Mit dem Export des Wahhabismus haben die Saudis auch der radikalen Islam-Auslegung des IS den Boden in aller Welt bereitet.

Was müsste passieren, damit sich Sunniten und Schiiten einander annähern könnten?
Aufgrund der sehr tiefen theologischen Unterschiede auf religiöser Ebene kann es faktisch keine Annäherung geben. Dafür wäre eine Neuschreibung der gemeinsamen, von konfliktträchtigen Legenden bestimmten Geschichte notwendig. Das wiederum erforderte einen lagerübergreifenden Konsens zwischen den führenden Theologen der Sunniten und der Schiiten, unabhängig von den jeweiligen politischen Interessen der Machthaber im Iran, Saudi-Arabien und Ägypten. Das jedoch ist nicht einmal in Ansätzen gegeben. Es gibt keine Aussicht darauf, dass sich die extrem divergierenden Geschichtsbilder in den nächsten Jahrzehnten annähern werden.

Die gefährlichsten Krisengebiete der Welt
Syrien und IrakIn den Konflikten in Syrien und im Irak gehört die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zu den stärksten Kriegsparteien. Sie beherrscht in beiden Ländern große Gebiete, in denen sie ein „Kalifat“ errichtet hat. Im syrischen Bürgerkrieg bekämpfen sich zudem das Regime und seine Gegner. Die Armee ist mit starker Hilfe von Kämpfern aus dem Iran, von der libanesischen Schiiten-Miliz Hisbollah sowie von der russischen Luftwaffe auf dem Vormarsch. Die moderate Opposition wird vom Westen unterstützt. Quelle: AP
Ukraine Quelle: dpa
Nigeria Quelle: dpa
Libyen Quelle: dpa
Spratly-Inseln im Südchinesischen Meer Quelle: dpa
Nordkorea Quelle: dpa
Afghanistan Quelle: dpa

Sowohl unter den Sunniten wie unter den Schiiten gab es zahlreiche Reformer, die den Streit zwischen beiden Konfessionen befrieden wollten. Heute sind sie nahezu allesamt tot. Warum konnten sie sich nie durchsetzen?
Es gab Ansätze von den Vierzigern bis in die Siebzigerjahre, sie wurden aber gewaltsam erstickt. Wer historisch-kritische Deutungsmethoden an den Koran oder die Scharia anlegt, der berührt nicht nur die Grundfesten der Religion, sondern immer auch die der Politik. Es gibt bis heute ein Kanzel- und Thron-Bündnis von regierungstreuen Klerikern und den Machthabern – das findet sich in fast jedem islamischen Staat. Die Machthaber instrumentalisieren den Theologenstand für ihre Zwecke. Sie bezahlen die religiösen Schriftgelehrten und nehmen somit Einfluss auf ihre Predigten. Die Machthaber achten im Gegenzug darauf, dass die Legitimität der Interpreten des konservativ-orthodoxen Islams unangetastet bleibt.

"Es gibt kaum Aussicht auf Lösung des Konflikts"

Warum sind die Prediger so wichtig für die Machthaber?
Die Schriftgelehrten haben die Aufgabe, die Legitimität der Machthaber gegenüber dem Volk zu unterstreichen. Insofern ist jede Kritik am Islam, an der islamischen Geschichtsdeutung, an der Herleitung bestimmter Verse des Koran immer auch Kritik an den Säulen der politischen Macht.

Am Ende Ihres Buches steht ein düsterer Ausblick für das Jahr 2026: Der Bürgerkrieg in Syrien wird weiter toben, mehr und mehr Nationalstaaten in der Region werden zerbrechen, radikale Kräfte aufseiten der Sunniten und Schiiten an Boden gewinnen, der islamistische Terror in der westlichen Welt zunehmen. Was macht Sie so pessimistisch?
Ursprünglich hatte ich zwei Szenarien aufgeschrieben, eines war positiver. Aber das habe ich ad acta gelegt, weil es unrealistisch ist. Ich habe 15 Jahre in verschiedenen Ländern im Nahen Osten gelebt und so weh mir das tut – ich sehe keinen Anlass für Optimismus.

Warum?
Es gibt kaum Aussicht auf Lösung des sunnitisch-schiitischen Konflikts, denn sowohl Saudi-Arabien als auch der Iran sind auf Konfrontationskurs. Die konfessionell heterogenen Nationalstaaten zerfallen weiter, es gibt kaum noch funktionierende nationalistische Ideologien, die den Menschen im Nahen Osten die Vision einer nationalen Einheit von Sunniten und Schiiten glaubhaft machen können. Der Westen ist gelähmt und hat in der Region keine verlässlichen Partner mehr. Alle unsere Verbündeten verfolgen egoistische Machtinteressen, die sich nicht mit der Stabilisierung der Region in Einklang bringen lassen. Ich sehe daher auf absehbare Zeit keine friedliche Lösung.

Der IS ist mittlerweile auf ein Drittel seines früheren Territoriums zurückgedrängt worden. Sollte das nicht Anlass zur Hoffnung geben?
Ich sehe, dass der IS in den letzten Monaten massiv an Territorium verloren hat. Aber wir sollten den IS weder politisch noch militärisch abschreiben. Sein Hauptoperationsgebiet ist weiterhin sein Stammland im Norden des Iraks, wo er die Kontrolle über die Zwei-Millionen-Stadt Mossul hat. Im Augenblick wird eine Schlussoffensive der Kurden, der Schiiten und der Zentralregierung in Bagdad geplant. Aufgrund des starken Rückhalts des IS in der sunnitischen Bevölkerung von Mossul sehe ich aber kaum Aussicht auf Erfolg. Schiitische Milizen haben bei jeder Rückeroberung von IS-Territorien Tausende Zivilisten als vermeintliche IS-Kollaborateure hingerichtet. Das schürt Ängste und stärkt den IS.

Terroristische Einzeltäter in Europa

Was bedeutet ein weiterer Zerfall des Nahen Ostens für Europa?
Wir müssen mit weiteren, noch größeren Fluchtbewegungen rechnen. Die Fluchtursachenbekämpfung der Kanzlerin kommt nicht voran. Gleichzeitig wächst die Bevölkerung in all diesen Ländern enorm – in den meisten Ländern des Nahen Osten sind 60 Prozent der Bevölkerung unter 25 Jahre alt. Für sie gibt es zu wenige Arbeitsplätze, Schulplätze und auch die infrastrukturelle Versorgung ist kurz vor dem Erliegen. Die Lebensumstände der Menschen dort werden immer prekärer. Angesichts Krisen und Kriegen sehen viele nur zwei Optionen: sich radikalen Gruppen anzuschließen oder die Flucht gen Westen. Europa bleibt letztlich nichts, als den Vertriebenen mehr humanitäre Hilfe zukommen zu lassen – insbesondere in Jordanien, im Libanon und in der Türkei.

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