Nahost-Konflikt Die riskante Taktik der Hamas in Gaza

Verzweiflung treibt die Menschen im Gazastreifen auf die Straße. Die Hamas hofft so auf eine letzte Chance, die Blockaden an den Grenzen zu beenden.

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Der Sonnenuntergang von der israelischen Seite der Grenze aus über dem Gazastreifen. Die radikal-islamische Hamas fordert die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge und deren Nachkommen in das Gebiet des heutigen Israels. Proteste forderten zuletzt 19 Todesopfer. Quelle: dpa

Chusa Palästinensische Aktivisten skandieren „Tod ist besser als Demütigung“, während dreirädrige Fahrzeuge alte Autoreifen in die Zeltstadt im Gazastreifen kutschieren. Die Aktivisten wollen die Reifen dort bei einer Großdemonstration am Freitag verbrennen – in der Hoffnung, dass der schwarze Rauch die Demonstranten vor israelischen Heckenschützen abschirmt.

Für einige der jungen Männer in dem Lager nahe der Ortschaft Chusa sind die Schlachtrufe keine Übertreibung. Seit Tagen werfen sie am wenige hundert Meter entfernten Grenzzaun Steine und brennende Reifen ab, ungeachtet neuer Warnungen der israelischen Regierung. 19 Menschen wurden seit Freitag vergangener Woche bereits von israelischen Soldaten erschossen, 14 von ihnen bei Protesten an der Grenze. Viele weitere wurden verletzt.

Er habe nichts zu verlieren, sagt der 17-jährige Schüler Nahed Kudih, der sich zusammen mit Mitschülern an den gefährlichen Protesten beteiligt. „Wenn ich verletzt oder zum Märtyrer werde, wäre meine Familie stolz“, erklärt er.

Seine Eltern wünschten sich zwar, dass er seinen Traum verwirklichen könne, Ingenieur zu werden, sagt Kudih. „Aber kein untätiger Ingenieur“, fügt er mit Blick auf die steigende Arbeitslosigkeit im Gazastreifen hinzu, die aktuell bei 48 Prozent liegt. „Die Menschen kommen aus Frust hierher“, sagt der 17-Jährige. „Wenn die Situation gut wäre, wäre hier kein Mensch zu sehen.“

Nach den Vorstellungen der radikalislamischen Hamas-Miliz sollen sich die Demonstrationen noch über Wochen hinziehen. Ein Teilnehmerrekord wird für Freitag erwartet. Angestoßen wurden die Aktionen ursprünglich von Social-Media-Aktivisten, die Hamas macht sie sich aber rasch zu eigen.

Die Miliz hat in der Nähe von Grenzübergängen fünf Zeltstädte als Magneten für Demonstranten eingerichtet. Sie stellte Pendelbusse zur Verfügung und verfolgt von Kommandoräumen aus die aktuellen Entwicklungen. Das Lager bei Chusa ist mit Mobiltoiletten, Flutlichtern und Internet-Service ausgestattet, Rettungswagen stehen bereit, um Verletzte ins Krankenhaus zu bringen.

Für die Hamas ist es vermutlich die letzte Chance, die israelische und ägyptische Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen, seit sie 2007 in dem Gebiet die Macht von ihrem Rivalen, dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas, übernahm. Die Sperrung hat die Wirtschaft im Gazastreifen zugrunde gerichtet und macht den Menschen die Ein- und Ausreise quasi unmöglich. Strom steht den Bewohnern jeden Tag nur für wenige Stunden zur Verfügung. Das Trinkwasser ist ungenießbar, und die Mittelmeerküste ist mit Abfällen verschmutzt.

Etliche andere Versuche der Hamas, die Blockade zu überwinden, sind in den vergangenen Jahren gescheitert. Darunter waren drei Kriege mit Israel und mehrere gescheiterte Gesprächsrunden mit Abbas über eine Machtteilung. Die jüngsten Verhandlungen platzten im März, unter anderem weil sich die Hamas weigerte, ihre Waffen abzugeben.

Die letzte Protestaktion haben die Hamas-Führer für den 15. Mai unter dem Motto „Großer Marsch der Rückkehr“ palästinensischer Flüchtlinge und ihrer Nachkommen angekündigt. Sie deuten damit einen Versuch an, auf israelisches Territorium vorzudringen. Zu einer massenhaften Überwindung des Grenzzauns riefen sie aber nicht ausdrücklich auf.

Es ist ein riskantes Vorhaben. Drei führende Hamas-Vertreter haben zwar betont, die Gruppe wolle einen weiteren verheerenden Krieg mit Israel vermeiden. Doch die Spannungen an der Grenze könnten schnell eskalieren - vor allem wenn Israel seine Drohung wahr macht, weiter im Gazastreifen gelegene Hamas-Ziele anzugreifen, falls die Proteste nicht aufhören. Einen Plan für den Fall, dass die Blockade nach dem 15. Mai weiter in Kraft bleibt, gebe es nicht, räumen die Hamas-Führer ein.

Als Minimum hofft die Miliz darauf, die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf die Lage in dem Küstenstreifen zu lenken. Das würde die Verhandlungsposition der Hamas in neuen Gesprächen mit Abbas unter ägyptischer Vermittlung stärken. Als erstes Anzeichen dafür, dass der Druck wirkt, trafen vor wenigen Tagen Vertreter des ägyptischen Geheimdienstes mit Abbas zusammen, um eine Eskalation im Gazastreifen zu verhindern.

Israel, das die Hamas als Terrororganisation betrachtet, wirft der Miliz vor, Bewohner des Gazastreifens für politische Ziele zu missbrauchen, in dem sie in das gefährliche Grenzgebiet geschickt werden. Die israelische Regierung beruft sich auf ihr Recht zur Verteidigung der Grenze und beschuldigt die Hamas, dort während der Proteste der vergangenen Woche Sprengsätze gelegt und auf Soldaten geschossen zu haben. Militärvertreter gehen davon, dass die Organisation Demonstranten ermutigt, den Grenzzaun zu durchbrechen.

Kritik an Schüssen israelischer Soldaten auf Demonstranten weist Israel zurück. Die Regierung macht geltend, dass die Hamas das Leiden der zwei Millionen Einwohner durch eine Entwaffnung und ein Ende der Gewalt längst hätte beenden können. Doch das lehnt die Miliz ab.

Nach Ansicht von Kritikern funktioniert die Blockadepolitik nicht, da sie vor allem der Zivilbevölkerung schade und die Hamas an der Macht gehalten habe. Sie werfen zudem Israel vor, die Sperrung für politische Zwecke zu missbrauchen - etwa um die Spaltung zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland weiter zu vertiefen.

 

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