Nato-Gipfel Neuer Kalter Krieg in Europa?

Gute Freunde waren Russland und die Nato nie. Aber zwei Jahrzehnte war das Verhältnis partnerschaftlich. Jetzt spukt das Gespenst eines neuen Kalten Krieges durch Europa. Sind wir schon wieder so weit? Ein Reisebericht.

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US-amerikanische Nato-Soldaten bei einem großen Marine-Manöver in Polen: An „Baltops“ nahmen 6100 Soldaten aus 17 Ländern teil. Quelle: dpa

Berlin Die Nato schickt tausende Soldaten nach Polen und ins Baltikum. Russland verstärkt seine Truppen im Westen des Riesenreiches massiv. Beide Seiten präsentieren bei Großmanövern ihre Waffen - und werfen sich gegenseitig Aggression vor.

Die nukleare Abrüstung ist ins Stocken geraten, die Beschaffung von Panzern und Raketen hat dagegen wieder Hochkonjunktur. Säbelrasseln scheint die bevorzugte Kommunikationsform zwischen der Nato und Russland zu sein. Geredet wird hauptsächlich übereinander, kaum noch miteinander.

Die Nato will am 8. und 9. Juli auf einem Gipfel in Warschau beschließen, ab dem kommenden Jahr zusätzlich 4000 Soldaten in die baltischen Staaten und nach Polen zu verlegen – zur Abschreckung Russlands. Die Regierung in Moskau hatte der Nato deswegen vorgeworfen, eine anti-russische Hysterie zu schüren.

Die russischen Annexion der Krim vor zwei Jahren hat die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs etablierte europäische Friedensordnung ins Wanken gebracht. Steht Europa nun ein neuer Kalter Krieg bevor? Oder stecken wir vielleicht schon mittendrin? Kurz vor dem Nato-Gipfel in Warschau sind Reporter der Deutschen Presse-Agentur durch Europa gereist, um dieser Frage nachzugehen.

Seit Jahrhunderten stehen sich die Hermannsfeste in der estnischen Stadt Narva und die russische Burg Iwangorod gegenüber. Getrennt nur vom Fluss Narva, der seit Jahrhunderten die Trennungslinie und Pufferzone zwischen den Machtblöcken auf beiden Seiten bildet. Heute verläuft hier die Grenzlinie zwischen der EU und Russland. Der Fluss ist zugleich die östliche Außengrenze der Nato.

Auf den imposanten Burgen wehen die estnische und russische Flagge. Doch in puncto Sprache ist die Grenze weniger eindeutig in Narva, der mit 60.000 Einwohner drittgrößten Stadt des Baltenstaats. „Die Menschen hier reden meistens Russisch“, erzählt Bürgermeister Tarmo Tammiste in seinem Büro. Als waschechter Este gehört er hier einer Minderheit an. In der ganzen Region leben vorwiegend ethnische Russen. Esten machen nur vier Prozent der Bevölkerung Narvas aus.

Unter Tammistes Bürofenster liegt der zentrale Peetri Platz. Ganz am Ende liegt der Grenzübergang, der auf eine breite Brücke führt. Rechts und links stehen Passkontrollhäuschen und Zollstationen. Schlagbäume und hohe Zäune markieren die Außengrenze der Nato. Panzer oder schwer bewaffnete Soldaten sind aber nicht zu sehen. Kein Hauch von Checkpoint Charlie, dem Symbol des Kalten Krieges im jahrzehntelang geteilten Berlin.

Auf der anderen Flussseite liegt das russische Iwangorod, ein Provinznest mit rund 9000 Einwohnern. Die Heimatstadt des russischen Präsidenten Wladimir Putin, Sankt Petersburg, ist nur 150 Kilometer weiter östlich - näher als Estlands Hauptstadt Tallinn.

Viele Russen in Estland betrachten Russland als ihre historische Heimat und ihr kulturelles Fundament“, sagt Kristina Kallas, Leiterin des Narva College der Universität Tartu. Die meisten ziehe es aber nur zum Verwandtenbesuch auf die andere Flussseite oder um sich dort billig Zigaretten, Sprit oder Alkohol zu besorgen.

Die Ukraine-Krise und die mit dem Schutz der russischen Landsleute begründete Annexion der Krim hat in Estland alte Ängste und neue Befürchtungen geweckt. Könnte Moskau auch die Russen in Narva aufwiegeln? Kann hier dasselbe passieren wie auf der Krim?


Estlands Luftwaffe existiert nur auf dem Papier

Bei einer russischen Invasion könnten die Esten kaum Gegenwehr leisten: Die Luftwaffe existiert nur auf dem Papier, die Flotte besteht aus wenigen Schiffen und der regulären Armee gehören gerade einmal 6.000 Soldaten an. Die russische Armee ist mehr als 100 Mal so groß.

Auch die Nato macht sich wenig Illusionen über die Kräfteverhältnisse. „Russland könnte die baltischen Staaten schneller erobern, als wir dort wären, um sie zu verteidigen“, räumte der Befehlshaber der US-Landstreitkräfte in Europa, Ben Hodges, kürzlich ein. Nach Expertenschätzung bräuchten die Russen höchstens 60 Stunden, um das Baltikum zu überrollen.

Für die Leute in Narva war nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht so ganz klar, wohin sie gehören. 1993 stimmte der Grenzort in einem später für ungültig erklärten Referendum für seine Abspaltung von Estland. Das Votum sorgte für Unruhe in dem noch jungen Land, das erst zwei Jahre zuvor nach jahrzehntelanger Zwangszugehörigkeit zur Sowjetunion seine Freiheit wiedererlangt hatte.

Der einstige Konflikt ist heute entschärft, trotz Fortschritten verläuft die Integration aber weiter schleppend. Viele ethnische Russen fühlen sich als Bürger zweiter Klasse. Wehmütig blicken insbesondere Ältere auf die Sowjetunion zurück. Bis heute weist eine Statue von Revolutionsführer Lenin aus einer Ecke im Burghof der Hermannsfeste symbolträchtig mit ausgestrecktem Arm in Richtung Russland.

Trotzdem gibt es bei den russischstämmigen Esten - anders als auf der Krim - bislang wenig Interesse an einer „Befreiung“ durch die Großmacht Russland. Das liegt vor allem am besseren Lebensstandard, den die EU bietet. Das Säbelrasseln zwischen Nato und Moskau verfolgen ethnischen Russen in Narva mit großem Unbehagen. „Wir sind Geiseln in diesem Spiel zwischen den USA und Russland“, sagt Galina Shustrova, Chefredakteurin des Regionalstudios des estnischen Rundfunks.

Die Aufrüstungspläne der Nato fürs Baltikum lehnt sie ab - so wie mehr als die Hälfte aller russischstämmigen Esten. Viele sehen darin eine „potenzielle Provokation Russlands“, erklärt Shustrova, die selbst russischer Herkunft ist. Die estnischen Einwohner befürworten hingegen zu 88 Prozent alliierte Truppen im Land.

Auch was das Bedrohungsgefühl angeht, ist Estland gespalten. In Umfragen sieht fast die Hälfte der Esten in Russland eine Sicherheitsgefahr, doch nur sechs Prozent der Russen. Den Grund dafür sehen Soziologen im Mediennutzungsverhalten. Das Weltbild der Minderheit wird vorwiegend von den Moskauer Staatsmedien geprägt.

Die Politologin Kallas glaubt deshalb, dass die Russen in Narva mit einer Invasion des mächtigen Nachbarn leben könnten: „Wenn Russland angreifen, Estland übernehmen und russisches Recht einführen sollte, wäre das für die Russen hier nicht das Ende der Welt. Für die Esten hingegen schon.“

Der östlichste Punkt der Nato ist 700 Kilometer weiter von Berlin entfernt, als das westlichste Gebiet Russlands: Kaliningrad. Im Süden Polen, im Norden und Osten Litauen, im Westen die Ostsee - wie eine Insel liegt die russische Exklave, die etwa so groß ist wie Thüringen, inmitten von EU- und Nato-Territorium.

Nicht weit entfernt üben westliche Truppen den Krieg, was die Russen verärgert. Der Nato wiederum gilt Kaliningrad als bedrohlichster russischer Militärstützpunkt, von dem aus man jedes Ziel in Polen mit Mittelstreckenraketen treffen könnte und das Baltikum vom Rest des Bündnisgebiets abschneiden könnte.

Die Menschen in der Stadt Kaliningrad nehmen die frühere Ostpreußen-Metropole Königsberg kaum als militärischen Vorposten Russlands wahr. „Wenn ich mit meinen Freunden beim Bier sitze, dann spielt das alles keine Rolle“, sagt Ilja Tarassow. Der 40-jährige Politologe sitzt im frisch restaurierten Innenhof der ehrwürdigen Kaliningrader Universität, benannt nach dem wohl größten Sohn Königsbergs, dem Philosophen Immanuel Kant (1724-1804).


„Kaliningrad ist eine militarisierte Region“

„Kaliningrad ist eine militarisierte Region - das ist ein historischer Fakt“, sagt Tarassow. Er spricht mit Bedacht, zählt an den Fingern seine wichtigen Punkte ab. „Um uns herum ist die Nato - historischer Fakt. Es gibt Differenzen zwischen Russland und der Nato - Fakt. Und wie wirkt sich das auf den Alltag der Menschen aus? Überhaupt nicht!“, meint er.

Schon zu Zeiten des Kalten Krieges war das Gebiet hoch gerüstet, und bis heute ist die Exklave wegen der Insellage von strategischer Bedeutung für den Kreml. Oft hat Russland gedroht, bei Nato-Provokationen hier Raketen zu stationieren. Ob sie schon da sind? Niemand weiß es, niemand spricht darüber.

Tarassow sagt, mehr als Russlands Probleme mit der Nato beschäftige die Menschen, wie sie ihren Alltag bestreiten. Und da fühlten sich viele Kaliningrader vom Westen angezogen. „Meine Studenten fahren öfter in die EU als ins große Russland.“

Das „große Russland“. Das ist ein fester Begriff im Vokabular der Kaliningrader, um sich vom russischen Kernland abzugrenzen. Moskau ist mit 1100 Kilometern Luftlinie doppelt so weit weg wie Berlin. Ein „kleiner Grenzverkehr“ mit Polen ermöglicht rund einer Million Kaliningrader seit 2012, ohne Visum in das Nachbarland zu fahren. „Das verschafft uns eine privilegierte Lage gegenüber anderen Regionen“, erklärt Tarassow. „Dafür interessieren sich die Menschen.“

Wer Soldaten, Panzer und Kriegsschiffe sucht, ist in der Stadt Kaliningrad an der falschen Adresse. Das Herz der Baltischen Flotte schlägt in Baltijsk, früher Pillau. Bereits auf den 50 Kilometern Weg gen Westen häufen sich die Militäreinrichtungen. Kleine Stützpunkte mit hohen Zäunen säumen den Wegrand. In Baltijsk liegt das Gros der Ostseeflotte: Landungsboote, Schlachtschiffe, vielleicht auch U-Boote. Die Zahlen sind geheim, eine Interviewanfrage der dpa blockt die Marine ab.

Eigentlich ist der Hafen von Baltijsk Sperrzone. Zivilisten bekommen selten Zugang. Lediglich auf einer Landzunge am Westrand des Areals sind keine Absperrungen. Minensuchschiffe und kleine Landungsboote liegen in Doppelreihen am Kai. Hie und da werkeln Matrosen an Deck, Schwäne paddeln zwischen den Booten. Er wirkt verschlafen, der Hafen.

Erst von der Seeseite lässt sich die Bedeutung von Baltijsk ahnen. Die Schiffe werden größer, die Bordkanonen dicker, riesige Kräne sind im Einsatz. „Der schwarze dort, der ist noch von den Deutschen, und der große graue dahinten, der kann ein ganzes Schiff heben“, sagt der Skipper Iwan (Name geändert). Die weiße Andreas-Flagge der Marine mit dem diagonalen blauen Kreuz flattert im Wind vom Heck, eine Erinnerung an Iwans frühere Zeit als Matrose. Mit seinem Schiff „Laika“ schippert der 40-jährige Ex-Soldat Besucher durch das Frische Haff, die Bucht vor Kaliningrad.

Ganz so geheim kann der Militärhafen nicht sein, denn jeder private Segler aus Polen muss daran vorbei zum Zoll und sieht die großen Landungsboote. Iwan zeigt nach Süden. Die polnische Küste ist nur gut 30 Kilometer entfernt. „Drei Stunden Fahrt, dann ist das Leben besser.“


Großes Marine-Manöver der Nato

Dichter Rauch steigt vom Strand auf. Weiß, gelb, schwarz - bis die Ostsee selbst aus wenigen Metern Entfernung nicht mehr zu sehen ist. Links rollt ein polnischer Schützenpanzer durch den Sand. Soldaten mit roten Armbinden rennen laut schreiend in Richtung Landesinnere. Von rechts nähern sich Landungsboote mit deutschen, italienischen und britischen Soldaten an Bord. Es knallt an allen Ecken und Enden.

Nach einer halben Stunde sind die Truppen und Panzer im Wald verschwunden. Nur ein paar Amphibienfahrzeuge stehen noch am Strand. Es wird langsam ruhig, der Rauch verzieht sich, das Schauspiel ist vorbei. Die Generäle auf der Tribüne sind hoch zufrieden.

Was sie gesehen haben ist der letzte Akt von „Baltops“, des größten Marine-Manövers der Nato in diesem Jahr. 6100 Soldaten aus 17 Ländern haben dabei zwei Wochen nach einem minutiös ausgearbeiteten Drehbuch geübt. Das Szenario: Die Terrorgruppe Nom besetzt die Insel Utö des virtuellen Staates Arnland. Der versucht sein Territorium zurückzuerobern.

Hybride Kriegführung nennt man ein solches Szenario im Militärjargon: Kampf gegen einen schwer berechenbaren Gegner, der nicht als staatliche Streitkraft auftritt. So wie die als „grüne Männchen“ titulierten Soldaten ohne Hoheitsabzeichen, die bei der russischen Annexion der Krim eine maßgebliche Rolle spielten. Ähnlichkeiten zwischen Manöver und wahrem Leben sind offiziell natürlich rein zufällig.

Was die Nato-Generäle am Strand von Ustka nicht sehen können: Russland ist bei dem Nato-Manöver dabei. „Sie sind die ganze Zeit da draußen“, sagt Kommandeur James Foggo. „Sie beobachten uns jetzt, in diesem Moment.“

Der US-Vizeadmiral mit der Nato-Baseballmütze meint zwei russische Aufklärungsschiffe, die „Baltops“ vom ersten Tag an begleitet haben. Bis auf eine Seemeile - knapp zwei Kilometer - trauen sie sich an den Nato-Übungsverband heran. „Dann machen wir unsere Fotos, die machen Fotos und dann ist gut“, sagt einer der an dem Manöver beteiligten Soldaten.

So nah wie hier, auf und über der Ostsee, kommen sich die Streitkräfte Russlands und der Nato nirgendwo sonst. Von Luftwaffen-Stützpunkten im Baltikum steigen Nato-Kampfjets auf, wenn russische Kampf- und Transportflugzeuge unangemeldet von Sankt Petersburg nach Kaliningrad fliegen. Auch deutsche „Eurofighter“ sind vier Monate im Jahr dabei. Zu gefährlichen Zwischenfällen kam es dabei noch nicht.

Trotzdem kann das Abtasten beider Seiten durchaus bedrohliche Züge annehmen. Vizeadmiral Foggo hat das während des „Baltops“-Manövers selbst erlebt. Wenige Kilometer vor der polnischen Küste bekam sein Flaggschiff „Besuch“ von zwei russischen Kampfjets vom Typ Su-24. Bis auf 300 Meter näherten sie sich der „Mount Whitney“ und dem britischen Hubschrauberträger „Ocean“.

Foggo nimmt solche Vorfälle sportlich. „Sie haben mir eine kleine Flugshow geliefert“, sagt er. Die russischen Flieger hätten sich „professionell“ verhalten und kein Sicherheitsrisiko dargestellt.

Ein paar Wochen vorher ereignete sich nicht weit entfernt allerdings ein Vorfall, der nicht mehr auf die leichte Schulter zu nehmen ist. Russische Kampfjets bretterten zwölf Mal am US-Zerstörer „Donald Cook“ vorbei und kamen ihm bis auf zehn Meter nahe. „Den Einsatzregeln entsprechend hätten sie abgeschossen werden können“, sagte Außenminister John Kerry anschließend. „Man muss begreifen, dass das eine ernsthafte Angelegenheit ist und die Vereinigten Staaten sich auf hoher See nicht einschüchtern lassen.“

Vor ein paar Jahren wäre so etwas kaum denkbar gewesen. 2012 nahmen russische Schiffe noch am „Baltops“-Manöver teil. Man übte gemeinsam. Jetzt herrscht Funkstille. Er habe versucht, mit den beiden russischen Aufklärungsschiffe Funkkontakt aufzunehmen, sagt Foggo. „Sie haben sich entschieden, nicht zu antworten.“


Deutschland schickt Kampfjets ins Baltikum

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hat wenig Zeit für Journalisten an diesem Juni-Nachmittag in Brüssel. Deutschland sei bereit „deutlich Verantwortung zu übernehmen“, sagt sie auf dem Weg ins Nato-Hauptquartier schnell in die Kameras. Man werde „eine von vier Rahmennationen“ bei der Truppenverlegung ins östliche Bündnisgebiet sein.

Rahmennation ist eines dieser wörtlich aus dem Englischen übersetzten Nato-Wörter, mit denen kein normaler Mensch etwas anfangen kann. Was von der Leyen eigentlich sagen will: Die Nato schickt tausende Soldaten nach Polen und ins Baltikum - und Deutschland ist ganz vorne mit dabei, wieder einmal.

Deutschland hat Kampfjets zur verstärkten Luftraumüberwachung ins Baltikum geschickt. Deutschland hat beim Aufbau der Nato-„Speerspitze“, einer schnellen Eingreiftruppe für Krisensituationen, eine Führungsrolle eingenommen. Deutschland gibt immer mehr Geld für die Beteiligung an Großmanövern der Nato aus. Dieses Jahr üben 5500 deutsche Soldaten im Osten der Nato, so viele wie noch nie. Jetzt soll Deutschland hunderte Bundeswehrsoldaten nach Litauen schicken, um ein Nato-Bataillon zur Unterstützung der litauischen Streitkräfte anzuführen.

Im vergangenen Jahr setzte von der Leyen sogar ein ganz persönliches Zeichen der Solidarität mit den östlichen Nato-Mitgliedstaaten. Bei einem Nato-Manövers ließ sie sich auf einem westpolnischen Truppenübungsplatz zusammen mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg vor einem „Leopard 2“-Kampfpanzer ablichten. Solche Bilder vermeidet sie normalerweise.

Die Oberbefehlshaberin der Bundeswehr ist in der Bundesregierung die treibende Kraft, was die Abschreckung Russlands angeht. Damit einher gehen ihre Pläne zur Aufstockung des Verteidigungsetats und Vergrößerung der Bundeswehr. Die Ministerin spricht von einer „Trendwende“.

Für sie ist die Hilfe für die östlichen Nachbarn auch historisch begründet. „Wir haben viele, viele Jahre in 60 Jahren Nato davon profitiert, dass die Amerikaner uns in Deutschland auch geschützt haben“, sagte sie beim Besuch des Nato-Manövers. Jetzt sei Deutschland gefragt, andere zu schützen.

Von der Leyen (CDU) will das Versprechen vom Anfang ihrer Amtszeit wahr machen, dass Deutschland mehr Verantwortung in der Welt übernimmt. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sieht das zwar genauso. Er meint aber eher die diplomatische Verantwortung.

Das Verhalten der Nato gegenüber Russland betrachtet er mit wachsendem Unbehagen. „Was wir jetzt nicht tun sollten, ist durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul die Lage weiter anzuheizen. Wer glaubt, mit symbolischen Panzerparaden an der Ostgrenze des Bündnisses mehr Sicherheit zu schaffen, der irrt.“

Mit diesem Satz hat Steinmeier nur wenige Wochen vor dem Nato-Gipfel für Irritationen in der Bundesregierung und bei den östlichen Bündnispartnern gesorgt. Bei den Wählern in Deutschland hat er damit allerdings einen Nerv getroffen. In einer aktuellen YouGov-Umfrage im Auftrag der dpa stimmen ihm fast zwei Drittel zu. Und nur neun Prozent befürworten die Entsendung von Bundeswehrsoldaten ins Baltikum.

Beim Nato-Gipfel in Warschau am 8. und 9. Juli wird Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dennoch vorne mit dabei sein, wenn es um die Abschreckung Russlands geht. Die Entsendung der Bundeswehrsoldaten nach Litauen soll dann beschlossen werden. Der zweite Teil der Nato-Doppelstrategie gegenüber Russland, der Dialog mit Moskau, ist dagegen wieder ins Stocken geraten. Das eigentlich vor dem Gipfel angestrebte Treffen des Nato-Russland-Rats soll erst später stattfinden.


Der Kuhhirt Ioncea zieht die Amerikaner den Russen vor

Für den Kuhhirten Ion Ioncea ist die Welt ganz klar geordnet. „Die Russen haben uns den Boden weggenommen und uns in die Kolchose gesteckt“, sagt er. „Die Amerikaner haben hier den Kindergarten gebaut und die Straße asphaltiert.“ Der 73-Jährige hat zwar kaum noch Zähne, entwickelt aber erstaunlich viel Energie, wenn er über die Russen spricht. „Die sollen dahin, wo der Pfeffer wächst“, sagt er, und holt weit mit seinem Hirtenstab aus.

Ionceas Kühe lungern am Ortsschild von Deveselu herum, einem kleinen Dorf in der rumänischen Provinz Walachei. Ein paar hundert Meter entfernt, hinter Bäumen versteckt, steht der Grund, warum die Amerikaner in das verschlafene Nest gekommen sind und den Kindergarten und den Asphalt und Straßenlampen mitgebracht haben. Er heißt „Aegis“, ist nach einem Schutzschild des griechischen Gottes Zeus benannt und soll Europa vor Angriffen mit Mittel- und Langstreckenraketen bewahren.

Errichtet wurde die Raketenstation ausgerechnet auf einem Militärflugplatz, der einst mit Hilfe der Sowjetunion erbaut wurde. Jetzt haben die US-Streitkräfte das Ruder übernommen. Zu dem System gehören ein etwa 20 Mal 20 Meter großer Metallkasten mit Radartechnik und einige Abschussrampen. Deveselu ist Kernstück eines Systems, zu dem auch eine Radarstation in der Türkei und in Spanien stationierte Schiffe gehören. Eine weitere Raketenbasis an Land wird gerade in Polen gebaut.

Das Raketenschild hätte ein Kooperationsprojekt zwischen Nato und Russland werden können. Von 2010 und 2013 wurde über eine Beteiligung Moskaus verhandelt, dann scheiterten die Gespräche. Kurz darauf begann die Ukraine-Krise. Statt für mehr Sicherheit in ganz Europa zu sorgen, ist der Schutzschirm nun ein Symbol für das Zerwürfnis zwischen Russland und dem Westen.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg wird zwar nicht müde zu betonen, dass das System nicht gegen Russland gerichtet ist. „Es sind zu wenige Raketen, und sie sind zu weit südlich oder zu nah an Russland stationiert, als dass sie russische Interkontinental-Raketen treffen könnten“, sagte er bei der Einweihung.

Solchen Aussagen traut man im Kreml aber nicht. „Das sind offensichtlich erste Schritte der USA, das strategische Gleichgewicht der Kräfte zu stören“, sagt der russische Präsident Putin. Moskau hat bereits damit gedroht eigene Raketen auf die Abwehrstationen der Nato zu richten.

Die Leute in Deveselu ignorieren so etwas. Für sie zählen der Kindergarten, die Straßen ohne Schlaglöcher und die Straßenbeleuchtung. Ansonsten vertrauen sie auf die Vernunft von Russen und Amerikanern. „Warum sollen wir Angst haben?“, fragt Bürgermeister Ion Aliman. „Alle haben gesagt, dass es ein rein defensives Schild ist. Ich hoffe, wir haben aus dem Zweiten Weltkrieg gelernt, in dem Millionen Menschen gestorben sind.“

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