Neue Atomwunderwaffen Die Hintergründe zu Russlands jüngstem Aufrüstungs-Wahn

Russland hat eine neue Atomwunderwaffe vorgestellt. Die Aufrüstung ist als direkte Warnung an die USA und die EU zu verstehen.

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Russland: Die Hintergründe des jüngstem Aufrüstungs-Wahn Quelle: AP

Moskau, Berlin, Wien Ein bisschen erinnert die Geschichte an das Märchen vom Hasen und vom Igel: „Ich bin allhier“, hat Wladimir Putin am Donnerstag dem Westen verkündet und dabei ein paar Videosequenzen demonstriert, die angeblich Russlands neue Atomwunderwaffen zeigen und damit Russlands Vorsprung in der Militärtechnik.

Die großteils animierten Aufnahmen lassen wenig Rückschlüsse über die Echtheit der Putin’schen Behauptungen zu: Ob Russland nun tatsächlich über mit Atomsprengköpfen bestückbare Interkontinentalraketen und Marschflugkörper verfügt, die mit Hyperschallgeschwindigkeit im Zick-Zack rund um den Globus bis vor die Weiße Haustür fliegen können, oder ob sich Frau Igel hinter den Trickfilmchen versteckt, ist keinesfalls gewiss.

In den Talkshows der staatlichen TV-Sender, in denen anschließend genüsslich über Russlands atomare Vormachtstellung philosophiert wurde, erklärten die eingeladenen Experten Putins Aussagen über den sagenhaften technologischen Sprung im Rüstungssektor für echt: „Es ist ein Wettlauf der Konstruktionsideen und wir sind hier auf der Überholspur“, sagte der Militärjournalist Iwan Konowalow. Putin selbst versuchte, seine Angaben zu den Atomraketen einen Tag später mit grandiosen Fortschritten in der Materialforschung zu untermauern.

Kritische Nachfragen, ob seine vollmundigen Ankündigungen neuer russischer Atom-Wunderwaffen auch wahr sind, wies Putin zurück: „Die Tests sind sehr gut gelaufen. An manchen muss noch nachgefeilt werden“, sagte er im Interview mit dem US-Sender NBC auf die Frage, ob er bei seiner Ansprache zur Lage der Nation nur simulierte Filme mit den neuen Nuklearraketen und Lenkwaffen gezeigt habe. „Sie alle haben Tests bestanden. Jedes von diesen Systemen befindet sich in einer bestimmten Bereitschaftsphase.“ Er wolle aber keinen „Anfang eines neuen Kalten Krieges“, unterstrich der Kremlherr. Das betrieben die USA seit diese aus dem ABM-Rüstungskontrollvertrag ausgestiegen seien.

Doch es gibt auch Zweifel: Es sei völlig unklar, wie weit der Rüstungssektor tatsächlich mit der Entwicklung der neuen Technologien sei, sagte der russische Militärexperte Alexander Golz dem Handelsblatt. Der stellvertretende Chefredakteur der Internetzeitung „Jeschednewny Journal“ verwies darauf, dass vor Putins Auftritt „ernsthafte Probleme“ bei der von ihm gepriesenen Rakete „Sarmat aufgetreten seien. „Testversuche waren zuerst Ende 2015 vorgesehen, wurden dann auf Ende 2016 und schließlich Ende 2017 verlegt“, die dann zudem mit einer Attrappe und nicht der echten Rakete durchgeführt wurden, erklärte Golz.

Getestet worden sei bisher nur, ob die Treibladung den Raketenkörper die ersten 30 bis 40 Meter in die Luft befördern kann. „Die anschließend demonstrierten Bilder zeigen schon eine andere Rakete“, betonte er.

Auch über die von Putin als Super-Neuheit präsentierten Avantgard-Blöcke für Marschflugkörper werde schon seit 2004 geredet, erinnerte Golz zudem. Die Anfänge stammten noch aus sowjetischer Zeit und sollten das von Ronald Reagan gestartete Raketenabfangprogramm überwinden. Doch die damalige amerikanische Taktik habe darin bestanden, die Rakete im Anfangs- oder Endstadium abzufangen, der neue Raketenschirm ziele auf die mittlere Flugphase, sagte Golz.

Zudem richte sich der US-Raketenschirm gegen Raketen im suborbitalen Flug (also außerhalb der Atmosphäre), während die von Putin beschriebenen Lenkmanöver in den unteren Luftschichten vollführt werden. „Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun“, urteilt Golz daher.

Putin jedoch hat die neuen Raketen explizit als Antwort auf den US-Raketenschild bezeichnet. Hintergrund dürften weniger technische, als vielmehr politische Überlegungen sein. Der US-Raketenschild ist ein unter der Regierung von George W. Bush begonnenes Rüstungsprojekt unter dem Namen „National Missile Defense“. Da der zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossene ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen das neue Rüstungsprogramm nicht erlaubt hätte, kündigte Washington den Russen den Vertrag kurzerhand 2002 auf.

Das Signal war klar: Das Weiße Haus machte dem Kreml deutlich, dass er nicht mehr als gleichwertiger Partner gesehen wurde, Verträge brauchte man dementsprechend nicht einzuhalten. Die öffentliche Demütigung stieß Moskau natürlich sauer auf. Beschwichtigungen, der Schild richte sich nicht gegen Russland, sondern den Iran oder andere potenzielle Terrorstaaten, finden im Kreml keinen Glauben. Russland kritisiert den Alleingang der Amerikaner seit Jahren als Bedrohung des Gleichgewichts und damit der internationalen Sicherheit.


Warum Russlands Ärger nachvollziehbar ist

Auf die Bedenken Moskaus haben die verschiedenen US-Regierungen seither aber nur mit geringfügigen Modifikationen reagiert: Barack Obama verzichtete auf Teile des Raketenschilds in Osteuropa. Ein in Tschechien geplantes Raketenradar fiel weg, die Stationierung von Raketen im polnischen Ostseedorf Redzikowo ist ungewiss. Doch im südrumänischen Deveselu steht eine Abwehranlage und Teile des Systems, die zuvor an Land geplant waren, sind jetzt seebasiert.

Der Ärger Russlands ist also nachzuvollziehen. Trotzdem sind die Ankündigungen Putins unverhältnismäßig. Der Raketenschirm garantierte den USA keineswegs vollständigen Schutz, die Verkündung des Atomprogramms ziehe – „ob gewollt oder nicht – einen Rüstungswettlauf nach sich“, sagte Golz.

Auch der Moskauer Politologe Fjodor Lukjanow bezeichnet Putins Rede als härtesten Auftritt in der Geschichte. „Das ist kein zweites München, das ist ein Super-München, nicht die Erklärung des Kalten Kriegs, sondern die Konstatierung, dass er schon läuft“, sagte Lukjanow. Zur Erinnerung: Bei der Sicherheitskonferenz in München hatte Putin 2007 den Westen mit einem Kraftauftritt schockiert.

Die US-Regierung betonte zwar, die Ankündigungen Putins seien nicht überraschend und für die USA keine Bedrohung, daneben warf die Sprecherin des Weißen Hauses Sarah Sanders dem Kreml einen „direkten Verstoß“ gegen vereinbarte Rüstungsbeschränkungen vor. Zugleich prahlte sie mit dem US-Rüstungshaushalt von 700 Milliarden Dollar – das entspricht immerhin dem zehnfachen der russischen Militärausgaben.

Donald Trump besprach Putins Rede derweil mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Dabei hätten sich die Staatschefs besorgt über die russische atomare Aufrüstung gezeigt, „da sie von einer produktiven Erörterung eines breiten Fragespektrums zwischen Russland und dem Westen ablenkt“, heißt es in einer anschließenden Erklärung des Weißen Hauses.

Die Bundesregierung kritisierte indes das von Putin angedeutete neue Wettrüsten: „Das gesamte sicherheitspolitische Verhalten Russlands“ sei inzwischen „sehr besorgniserregend“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Hinblick auf Putins Rede, die Annexion der Krim sowie Moskaus Vorgehen sowohl in der Ost-Ukraine wie auch in Syrien.

Dort bekam Russland Anfang Februar die Verwundbarkeit seiner Waffen demonstriert, als Rebellen über dem von ihnen gehaltenen Gebiet um Islib einen russischen Sukhoi Su-25 Kampfbomber abschossen. Inzwischen hat der Kreml vier der neuesten Kampfjets nach Syrien verlegt: Su-57 Jets, die unsichtbar seien und über ein völlig neues Radarsystem verfügen sollen. Sie wurden auf die Khmeinim Airbase der Russen in Syrien geschafft – und sollen ein Gegengewicht zu amerikanischen F-22 und F-35 Jets sein. Die USA  hatten russischen Söldnern Anfang des Monats eine empfindliche Niederlage am Euphrat beigebracht.

Militärexperten wie Igor Korotschenko vom Moskauer Militärblatt „Nazionalnaja Oborona“ warnen, dass Gegner wie die USA nun durch deren Einsatz die neuesten russischen Technologien demonstriert bekämen. Armeevertreter betonten indes, dass durch den Einsatz die Kampfbomber „unter realen Kriegsbedingungen getestet werden“. In Syrien habe Russland 215 verschiedene Waffensysteme eingesetzt und 72 Mängel dabei entdeckt.

Das Pentagon reagierte derweil nicht nur verbal auf die russische Herausforderung und lieferte als Antwort Raketen an die Ukraine. Panzerabwehrraketen und Raketenwerfer im Wert von 39 Millionen Dollar können sicher nicht die angekündigten Wunderwaffen aufhalten, dürften aber die amerikanisch-russischen Spannungen weiter verschärfen.

In Kiew selbst hat die Rede ebenfalls Ärger hervorgerufen: Der ukrainische Premierminister Wolodomir Hroisman forderte eine weitere Verschärfung der Wirtschaftssanktionen gegen Moskau. Russland demonstriere seinen Willen zu einem Rüstungswettlauf. Darauf könne man nur mit einer Stärkung des eigenen Militärs und einer wirtschaftlichen Schwächung Russlands reagieren, meinte Hroisman. 


Gelassenheit in Osteuropa

In den meisten anderen osteuropäischen Staaten haben die Aufrüstungspläne von Putin keine große Aufregung ausgelöst. In den Medien Prag über Budapest und Bukarest bis nach Sofia spielt das Wortduell zwischen Kreml und Nato nur eine untergeordnete Rolle. Putins verbalen Muskelspiele werden angesichts des Wahlkampfes für seine Wiederwahl am 18. März noch allzu hoch gehängt. Traditionell gibt es für die Atompläne in den ehemaligen Satellitenstaaten der einstigen Sowjetunion ohnehin mehr Verständnis als in den westeuropäischen Ländern – allen voran Deutschland.

Aus Tschechien muss Putin mit seinem angeblichen Rüstungswettlauf nicht viel Kritik erwarten. Der prorussische Präsident Milos Zeman wurde wieder gewählt. In Prag wird erwartet, dass Zeman Putin Wunderwaffen verteidigen und ein Wettrüsten wie zu Zeiten des Kalten Krieges abstreiten wird. Das Parlament in Prag lehnte zuletzt den Vorschlag ab, den Verteidigungsetat auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Zudem verlangen die Kommunisten, aber auch die rechtsradikale SPD eine Volksabstimmung über die Mitgliedschaft in der Nato und der EU zuzulassen. Dagegen wehrt sich der proeuropäische Premier Andrej Babis. Doch der Multimilliardär verfügt im Prager Parlament über keine Mehrheit. 

Auf Ungarn kann sich Putin verlassen. Der rechtspopulistische Premier Viktor Orbán pflegt seit langem ein exzellentes persönliches Verhältnis zum russischen Staatspräsidenten. Die Geschäftsbeziehungen zwischen beiden Ländern sind intensiv. Zuletzt schlossen Ungarn und Russland ein Milliardengeschäft bei der Erweiterung des ungarischen Atomkraftwerks Pacs ab. Orbán-Kritiker rügen, dass sich rechtspopulistische Premiere durch seine Energiepolitik in eine starke Abhängigkeit zu Putin manövriert. Doch der langjährige Premier in Budapest sieht Russland als wichtigen Partner – auch um auf EU und NATO Druck auszuüben.

Eng an der Seite der Nato steht hingegen Rumänien. Das Karpatenland spielt ähnlich wie Polen als Standort des Abwehrsystems gegen Russland eine wichtige strategische Rolle. In Bukarest wird der Nato auch eine Schlüsselrolle in den Beziehungen zum Nachbarland Moldau zugewiesen. Nationalisten träumen von einer Wiedervereinigung mit der ehemaligen Sowjetrepublik, die seit Jahrzehnten unter den eingefrorenen Konflikt in der abtrünnigen Provinz Transnistrien leidet. Zu den Atomplänen von Putin sich die Premierministerin Viorica Dăncilă bislang noch nicht geäußert. Sie gilt ohnehin als politisch schwache Figur. Die dritte Ministerpräsidentin in rund einem Jahr ist vom vorbestraften, sozialdemokratischen Parteichef Liviu Dragnea abhängig.

Im Gegensatz zu Rumänien wird aus Bulgarien keine ernst zu nehmende Kritik an den Atom-Plänen des Kremls kommen. Das Balkanland pflegt trotz Nato-Mitgliedschaft enge, traditionell freundschaftliche Beziehungen mit dem Kreml. Putin wird noch in diesem Jahr auf Einladung des russlandfreundlichen Staatspräsidenten Rumen Radev Bulgarien einen Staatsbesuch abstatten. Radev spricht von einer „tiefen historischen und geistigen Verbindungen zwischen den Menschen in Bulgarien und Russland“.

In Polen, das bisher immer sehr scharf auf russische Aufrüstung reagiert hat, blieben die Reaktionen auffallend zurückhaltend. Allerdings wurde die Notwendigkeit unterstrichen, jetzt erst recht bis Jahresende den US-Raketenabwehrschirm in Polen und Rumänien zu installieren. Beide Länder haben auch gerade amerikanische Patriot-Abwehrbatterien beschafft.

2014 hatte Putin nach der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim gedroht, seine Truppen könnten „wenn ich es will, in zwei Tagen in Kiew, Riga, Vilnius, Tallinn, Warschau und Bukarest sein“. Seither rüsten Polen und Rumänien stark auf – Bukarest hat vorige Woche nicht nur Verträge zum Kauf von Patriots unterzeichnet, sondern auch für die Beschaffung Raketenwerfer vom Typ Himars von Lockheed-Martin. 

Für die Aufrüstungspläne von Putin spielen indirekt auch die Erweiterungspläne der EU auf dem Balkan eine Rolle. Erst in der vergangenen Woche reiste EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker durch die Bewerberstaaten von Serbien über Kosovo, Mazedonien und Montenegro bis nach Albanien. Die Integration von Serbien und Montenegro in die Europäische Union – womöglich schon 2025 – ist Putin ein Dorn im Auge. Montenegro wurde erst im vergangenen Jahr gegen den Protest des Kremls und auf Druck des Weißen Hauses in die Nato aufgenommen. Damit hat sich das nordatlantische Verteidigungsbündnis einen weiteren strategisch wichtigen Stützpunkt in Südosteuropa gesichert – zum Ärger Russlands.

Serbiens Präsident Aleksandar Vucic versucht trotz der angestrebten EU-Mitgliedschaft unterdessen das gute Verhältnis zu Putin zu wahren. Serbien ist nicht Mitglied der Nato. Im Herzen des einstigen Jugoslawiens sind die Bombenangriffe der Nato auf die Hauptstadt Belgrad tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt.

Junckers ruderte bei seiner Balkan-Tour in Sachen EU-Erweiterung zuletzt vorsichtig zurück. In Albanien sagte er: „Im Gegensatz zu dem, was überall zu lesen ist, haben die Kommission und ich nicht gesagt, dass Serbien und Montenegro notwendigerweise 2024 Mitglieder der EU werden.“  Das Datum sei offen für alle EU-Beitrittskandidaten.

Insbesondere für den Kunststaat Bosnien-Herzegowina ist der Weg nach Europa noch weit. Denn Russland unterstützt aktiv den von Serben bewohnten Teil in seinen Unabhängigkeitsbestrebungen. Erst kürzlich empfing Putin im Kreml Milorad Dodik, Präsident der abtrünnigen Republik Srpska. Russland unterstützt beispielsweise die Militarisierung der Polizei in der von Separatisten regierten Polizei.

Im Mai findet unter der EU-Ratspräsidentschaft von Bulgarien in der Hauptstadt Sofia ein Gipfel der 27 Mitgliedsstaaten statt. In der bulgarischen Hauptstadt sollen wichtige Weichen für die geplante Erweiterung der EU in Südosteuropa gestellt werden. Die Aufrüstungspläne Putins sind auch als Warnschuss auf die Expansionspläne von EU und Nato zu verstehen.

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