Neues Dekret von Erdogan Sieben Jahre Haft – ohne Urteil

Der türkische Staatschef dehnt die ohnehin schon lange Untersuchungshaft in seinem Land per Dekret weiter aus. Betroffen sind auch deutsche Gefangene. Zugleich öffnet Erdogan aber eine Hintertür für deren Austausch.

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Mit einem neuen Dekret des türkischen Präsidenten kann die Dauer für bestimmte Straftaten wie Terrorvergehen auf sieben Jahre ausgedehnt werden. Quelle: dpa

Der „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel, die deutsche Journalistin Mesale Tolu Corlu, der Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner und Zehntausende weitere Untersuchungshäftlinge müssen möglicherweise länger als befürchtet ohne Urteil in türkischen Gefängnissen verbringen. Mit einem am Wochenende in Kraft getretenen Dekret hat Staatschef Recep Tayyip Erdogan die maximale Dauer der Untersuchungshaft von fünf auf sieben Jahre heraufgesetzt. Das gilt für Beschuldigte, denen die Unterstützung von Terrororganisationen, Spionage oder eine Beteiligung an dem Putschversuch vom Juli 2016 vorgeworfen werden. Damit gilt die neue Regelung auch für Yücel, Tolu und Steudtner, die unter anderem der „Terrorpropaganda“ oder der „Spionage“ beschuldigt werden.

Regulär dauert die Untersuchungshaft in der Türkei maximal zwei Jahre. Auf Beschluss eines Gerichts kann sie aber um drei Jahre verlängert werden. Mit dem neuen Dekret kann die Dauer für bestimmte Straftaten wie Terrorvergehen nun auf sieben Jahre ausgedehnt werden. Früher konnten in der Türkei Terrorverdächtige sogar für zehn Jahre ohne Anklage oder Urteil weggesperrt werden. Auf Druck der EU wurde das geändert.

Zum Vergleich: In Deutschland soll die Untersuchungshaft laut Strafprozessordnung in der Regel sechs Monate nicht überschreiten. Sie kann aber auf Beschluss des zuständigen Oberlandesgerichts verlängert werden.

Schlüsselstaat Türkei

Mit der Verlängerung der U-Haft verschärft Erdogan die Gangart gegenüber seinen Gegnern. Damit verschlechtern sich auch die Aussichten auf eine baldige Freilassung der deutschen Gefangenen – zumindest auf den ersten Blick. Mit dem ebenfalls am Wochenende in Kraft getretenen Dekret Nr. 694 ermächtigt sich Erdogan allerdings, ausländische Gefangene in deren Heimatländer abzuschieben oder auszutauschen. Bisher hatte die türkische Regierung im Fall der inhaftierten Deutschen auf die Entscheidungen der türkischen Justiz verwiesen, die unabhängig sei. Künftig kann der Präsident Abschiebung oder Austausch ohne Einschaltung der Justiz anordnen.

Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) hatte Erdogan vorgeworfen, er halte die Deutschen als „Geiseln“ fest, um Druck auf Berlin auszuüben. Auch Erdogan deutete in den vergangenen Wochen mehrfach einen Zusammenhang zwischen der Inhaftierung der Deutschen und Putsch- oder Terrorverdächtigen an, die sich in Deutschland aufhalten. Erst kürzlich klagte Erdogan, einerseits verlange Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) von ihm die Freilassung der deutschen Gefangenen, andererseits weigere sie sich, mit Haftbefehl gesuchte Türken auszuliefern.

Erdogan sagte, er habe der Kanzlerin Akten zu rund 4500 gesuchten türkischen Staatsbürgern übergeben, die sich in Deutschland aufhalten sollen. Dabei handelt es sich nach türkischer Darstellung um Mitglieder der kurdischen Terrororganisation PKK und anderer extremistischer Gruppen. Merkel habe aber bisher auf die Liste nicht reagiert, kritisierte Erdogan.

Der Streit um die PKK-Aktivitäten in Deutschland schwelt seit Jahren. Nun erhebt Ankara auch den Vorwurf, Deutschland schütze Anhänger des Erdogan-Erzfeindes Fethullah Gülen, den die Regierung als Drahtzieher der Umsturzpläne sieht. Nach dem Putschversuch haben nach inoffiziellen Angaben etwa 250 türkische Soldaten und Diplomaten sowie ihre Angehörigen in Deutschland Asyl beantragt.

Sie suchen Schutz vor politischer Verfolgung in ihrer Heimat. Weit oben auf der Liste der mutmaßlichen Putschisten, um deren Auslieferung sich die Türkei bemüht, steht Adil Öksüz. Der 50-jährige islamische Geistliche soll als Gülen-Vertrauter in der Putschnacht auf der Luftwaffenbasis Akinci bei Ankara den Umsturzversuch mitorganisiert haben.

Gefangenenaustauch bleibt fragwürdig


Von Akinci starteten die F16-Kampfjets, die in jener Nacht das türkische Parlamentsgebäude und den Präsidentenpalast bombardierten. Öksüz wurde in der Nähe des Stützpunkts von regierungstreuen Truppen festgenommen, wenig später aber von einem Richter auf freien Fuß gesetzt. Er soll über Armenien nach Deutschland geflohen sein. Augenzeugen wollen ihn in Ulm und Frankfurt gesehen haben. Das türkische Außenministerium beantragte vor zwei Wochen seine Auslieferung. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes erklärte damals, man wisse nicht, ob sich Öksüz tatsächlich in Deutschland aufhalte.

Neben Yücel, Tolu und Steudtner befinden sich noch mindestens sieben Deutsche aus politischen Gründen in türkischer Haft. Am Wochenende wurde ein weiterer Fall bekannt, über den „Bild am Sonntag“ berichtete. Der aus Schwerin stammende David B. sei bereits im April in der Südosttürkei festgenommen worden. Das Auswärtige Amt bestätigte den Fall. Was dem Deutschen vorgeworfen wird, ist unklar.

Ein Gefangenenaustausch, wie ihn Erdogan jetzt mit dem jüngsten Dekret ins Spiel bringt, wäre allerdings politisch und rechtlich fragwürdig. Die türkische Justiz tut sich offenbar schwer, Auslieferungsanträge stichhaltig zu begründen. Das zeigt der Fall Gülen, um dessen Auslieferung sich Ankara in den USA seit langem erfolglos bemüht. Die im Fall Gülen von der Türkei vorgelegten Akten seien zwar sehr umfangreich, die Beweislage aber äußerst dürftig, berichten US-Medien unter Berufung auf dortige Justizkreise.

„Die Türkei bekommst du hinterhergeworfen“

Selbst wenn die türkische Justiz gegenüber den deutschen Behörden einen Antrag zur Auslieferung von Öksüz und anderen Putsch-Verdächtigen ausreichend begründet, bedeutet das nicht automatisch die Auslieferung. Sie könnte daran scheitern, dass auf die Beschuldigten in der Türkei möglicherweise kein faires Verfahren wartet und dass ihnen Misshandlung und Folter drohen. Mit dieser Begründung lehnte bereits die griechische Justiz die Auslieferung von acht türkischen Soldaten ab, die nach dem Putschversuch in einem Hubschrauber nach Nordgriechenland geflohen waren.

Nach einem Bericht des Stockholmer Zentrums für Freiheit (SCF) vom Juni häufen sich die Fälle von Misshandlungen in türkischen Gefängnissen. Das Anti-Folter-Komitee des Europarats hatte bereits nach dem Putschversuch vom vergangenen Jahr die Haftbedingungen in mehreren türkischen Hochsicherheitsgefängnissen begutachtet. Die türkische Regierung, ohne deren Zustimmung die Ergebnisse der Prüfung nicht veröffentlicht werden dürfen, hält den Bericht aber unter Verschluss.

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