Wie würden Sie Kim Jong-uns Politik beschreiben?
Sie steckt voller Überraschungen. Er ist kein klassischer Verwaltungsbeamter, der alles in den eingefahrenen Bahnen weitermacht. Es sucht nach neuen Wegen und nimmt dabei auch Risiken in Kauf. Denken Sie etwa an die bizarre Geschichte mit der Einladung von Dennis Rodman. Kim Jong-un ist ein starker Diktator, der relativ frei von "check&balances" agieren kann. Es gibt also auch niemanden, der sich traut, ihn von einer nicht ganz so guten Idee abzuhalten. Wegen seiner Jugend und seines Mangels an Erfahrung hat er ein gewisses Legitimationsproblem und muss seinen Platz nach seinem Großvater und seinem Vater erst noch finden. Deshalb geht er seinen eigenen Weg mit einem eigenen Stil.
Woraus ergibt sich das Legitimationsproblem?
Die Macht geht in Nordkorea vom Gründer aus, also seinem Großvater Kim Il-sung. Nun ist der aber 1994 schon gestorben. Für Kim Jong-il, den Vater des aktuellen Diktators, bildete die Nähe zum Staatsgründer die Basis seiner Macht. Er war 20 Jahre lang die rechte Hand seines Vaters, wurde von diesem 1980 offiziell zum Nachfolger bestimmt und war damit ab 1994 und der einzig mögliche neue Führer. Aber Kim Jong-il ist überraschend und zu früh gestorben, so dass er keinen Nachfolger aufbauen konnte. Kim Jong-un wurde überhaupt erst ein Jahr vor dem Tod seines Vaters der Öffentlichkeit vorgestellt – und er ist zudem noch der drittgeborene Sohn. Er muss sich als Führer erst profilieren.
Mit welchem Politiker würden Sie den nordkoreanischen Machthaber vergleichen?
Angesichts der fast absoluten Machtfülle fallen einem hierzu kaum Vergleiche ein. Weder Stalin noch Mao kommen in Frage, auch kein römischer Kaiser. Nein, ich denke, Kim Jong-un ist Kim Jong-un.
Ist der neue nordkoreanische Machthaber ein visionärer Führer oder ein risikoscheuer Bewahrer?
Ich sehe ihn definitiv eher als aktiven Visionär anstatt als vorsichtigen Beamtentyp. Die fast drei Jahre seiner Herrschaft sind voll von Entscheidungen, auch solchen, die man nicht erwartet hat. Derzeit glaubt er aber noch daran, das Land im Rahmen des existierenden Systems weiterentwickeln zu können. Erst, wenn er diese Möglichkeiten ausgeschöpft hat, wird er an einem Punkt ankommen, wo ihm klar wird: Entweder Reform und Fortschritt, oder Stagnation. Ich denke, er wird sich für ersteres entschieden, wenn es soweit ist. Auch wenn das das Risiko beinhaltet, das System nicht nur zu reformieren, sondern zu zerstören, wie es Michail Gorbatschow gelungen ist.