Ökonomie Die Pflichtlektüre für alle Gegner der Globalisierung

Vor 200 Jahren entwickelte der britische Ökonom David Ricardo seine Win-win-Theorie über die Vorteile des internationalen Warenaustausches. Sie ist aktueller denn je.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
David Ricardo ist Pflichtlektüre für alle Gegner der Globalisierung. Quelle: Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein

David Ricardo war ein begnadeter Kriegsgewinnler. Kurz vor der Schlacht von Waterloo im Frühsommer 1815, bei der die alliierten Truppen der Briten und Preußen der Armee des französischen Kaisers Napoleon Bonaparte gegenüberstanden, kaufte er in großem Umfang britische Staatsanleihen – und setzte fast sein gesamtes Vermögen auf einen Sieg der Briten. Als die Nachricht von der Niederlage Napoleons London erreichte, setzten die Papiere zum Höhenflug an, und Ricardo wurde mit einem Schlag zu einem der reichsten Männer Englands. Der plötzliche Wohlstand erlaubte es dem „Günstling des Glücks“ (Ricardo über Ricardo), sich auf seinen Landsitz Gatcombe Park in Gloucestershire zurückzuziehen und seiner wahren Leidenschaft zu frönen: der politischen Ökonomie.

Das Geld war auch für die Nachwelt gut angelegt. Denn aller finanziellen Sorgen ledig, setzte David Ricardo einen wirtschaftswissenschaftlichen Lehrsatz in die Welt, an den fast alle Ökonomen glauben: Der freie Handel von Waren und Dienstleistungen dient dem Wohlergehen der Menschheit. Passieren Güter ungehindert Grenzen, so Ricardo, finden Arbeit, Boden und Kapital automatisch ihre sinnvollste Verwendung. Dann wird Arbeitsteilung möglich, dann steigt der Wohlstand. Es sind die grundstürzenden Erkenntnisse eines Mannes, der kein studierter Stubenökonom war, sondern ein leidenschaftlich diesseitiger Naturwissenschaftler, Börsenhändler, Politiker.

Durch den Handel zum Frieden

Vor genau 200 Jahren veröffentlichte Ricardo (1772–1823) sein bahnbrechendes Werk „On the Principles of Political Economy and Taxation“ – ein Buch, das rasch zum intellektuellen Goldstandard aller Fernhandelsfreunde avancierte, die sich vom internationalen Gabentausch nicht weniger als den Weltfrieden („le doux commerce“) erhofften. Bis heute zählt die Freihandelslehre Ricardos zum Basiswissen der Volkswirtschaftslehre.

Dass ein Land auch dann Handel treiben kann, wenn seine Arbeiter weniger produktiv sind als die in anderen Ländern, zeigt David Ricardo in unserer Animation.

Im Mittelpunkt steht seine Theorie komparativer Vorteile. Ihre zentrale Idee ist, dass auch diejenigen Länder erfolgreich am Handel teilnehmen können, die in allen Bereichen absolute Kostennachteile haben. Dazu müssen sie sich auf die Güter spezialisieren, die sie relativ (komparativ) günstiger herstellen können als andere Güter. Die Theorie ist Erklärung und Postulat zugleich: für freien Handel, Arbeitsteilung und die Überlegenheit des Marktes gegenüber staatlichen Lenkungsfantasien und Wohlstandsversprechen.

Dennoch stehen die Anhänger offener Märkte derzeit weltweit unter Rechtfertigungsdruck. In den USA verunglimpft Präsident Donald Trump den freien Handel als Selbstbereicherungsprogramm für exportstarke Länder. In Europa drohen Politiker dem EU-Renegaten Großbritannien mit protektionistischen Strafaktionen. In China glaubt die Regierung, die Akkumulation von Exportüberschüssen sei der Königsweg zu mehr Wohlstand.

Die jahrelange Propaganda von Globalisierungsgegnern hat auch in der Öffentlichkeit die Widerstände gegen den freien Handel wachsen lassen. Dabei zeigen die Überlegungen Ricardos, dass der freie Handel nach wie vor und in summa ein gigantisches Programm zur Mehrung des Wohlstands ist. Eine Rückbesinnung auf die basale Erkenntnis des großen Ökonomen ist daher nötiger denn je. Das Bewusstsein für die Segnungen des Freihandels darf nicht den gängigen Ungleichheitsdiskursen zum Opfer fallen. Und die große, alte Idee der Globalisierung als einer pazifizierenden Kraft auf Basis des freien Warenaustausches darf nicht im Fahrwasser einer teils berechtigten Finanzmarktkritik untergehen.

Als David Ricardo am 18. April 1772 in London zur Welt kam, befand sich die Welt im Übergang zum Industriezeitalter. Er ging mit schwankenden Ernten, wachsender Bevölkerung und vermehrten Handelsbeschränkungen einher. Ricardos Vater war ein erfolgreicher Börsenmakler und mit seiner Familie aus Amsterdam nach London übergesiedelt. Nach der Grundschule schickten seine Eltern Ricardo zu Verwandten nach Amsterdam, wo er bis zum 13. Lebensjahr das Gymnasium besuchte. Mit 14 Jahren, nach der Rückkehr in die britische Hauptstadt, trat er in die Maklerfirma seines Vaters ein. Rasch fiel er durch seine überdurchschnittlichen mathematischen Fähigkeiten auf und – wie einer seiner Brüder bemerkte – durch „den Gefallen an abstrakter und allgemeiner Argumentation“.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%