Ökonomin und Lateinamerika-Expertin „Lateinamerika erlebt die schlimmste Wirtschaftskrise seit es Aufzeichnungen gibt“

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„Politische Instabilität ist Gift für die Ökonomie“

Wie können sich die Länder selbst noch helfen?
Heimisch haben die Länder nur eingeschränkte Spielräume, eine antizyklische Fiskalpolitik zu betreiben. Strukturpolitisch wäre ein Ausbau der Investitionsmaßnahmen notwendig, denn die große Ungleichheit bringt ökonomische und politische Verwerfungen mit sich. Dazu bräuchte man ein progressives Steuersystem, um die soziale Umverteilung zu finanzieren. Dazu sollten antizyklische Instrumente gestärkt und öffentliche Ausgaben im Boom reduziert werden. Die Ausbildung einer intensiven Wissenschafts- und Technologiepolitik wäre auch sinnvoll, sodass Lateinamerika die Wertschöpfung, aufbauend auf Commodities, steigern und sich in globale Wertschöpfungsketten reintegrieren kann.

Bringen sinkende Infektionszahlen Hoffnung auf eine schnelle Erholung der Wirtschaft?
Die Katastrophe ist jetzt da. Trotzdem ist jedes Sinken der Zahlen und Verkürzen der Zeit bis zur Ankunft der Impfstoffe hilfreich und eine Erleichterung. Corona belastet die Gesundheitssysteme, kostet Leben und die Lockdowns restringieren die Nachfrage extrem. Lateinamerika hat jetzt auch einen klimatischen Vorteil, da nun die Sommerzeit beginnt. Was wir klimabedingt in der zweiten Welle in Europa erleben, hat man dort nicht. Im Gegenteil hat die erste Welle nie aufgehört, sondern flacht jetzt erst ab.

Warum ist die wirtschaftliche Abhängigkeit von den USA und China jetzt fatal?
Traditionell waren die USA der Haupthandelspartner Lateinamerikas, aber China hat die Vereinigten Staaten in vielen Ländern von der Spitze verdrängt. Zusätzlich hat sich Südamerika wieder stark auf den Rohstoffexport spezialisiert. Zum Beispiel liefern Brasilien und Argentinien zusammen 40 Prozent der globalen Sojaproduktion. Wenn dann die chinesische Nachfrage sinkt, sinkt der Sojapreis und das trifft die Länder ohne Gegenmittel. Der Mangel an Diversifizierung macht anfällig für Preisschwankungen. Deswegen wächst die Abhängigkeit von China und macht erpressbar bezüglich der angebotenen Investitionsmöglichkeiten in Land, Infrastruktur und den Finanzsektor. China hat sich bereits viel von der Infrastruktur gesichert.

Ein Impfstoff gegen das Coronavirus scheint gefunden und kommt auch noch vom deutschen Unternehmen Biontech. Die Euphorie ist groß. Doch zu viele Fragen sind noch ungeklärt. Etwa, wer wann und wie viel Impfstoff bekommt.
von Jacqueline Goebel, Daniel Goffart, Rüdiger Kiani-Kreß, Hannah Krolle, Jürgen Salz, Heike Schwerdtfeger, Thomas Stölzel, Cordula Tutt, Silke Wettach

Ist eine weitere Verstaatlichung der Wirtschaft denkbar, um eine Stabilisierung zu erzwingen?
Peru zum Beispiel hat 20 Jahre lang eine Politik der Entstaatlichung verfolgt. Mit diesem Weg einer sehr liberalen Entwicklung sind sie mit Blick auf die Wachstumsraten gar nicht schlecht gefahren. Jetzt haben sie aber gemerkt, dass eine universale Sozialpolitik nötig ist, um die Armut zu mindern, dass man diese nicht mit den jetzigen Institutionen umsetzen kann. Diese Erfahrung hat auch Chile gemacht. Dadurch entsteht nun ein Konsens, dass ein Mindestmaß an staatlichen Institutionen nötig ist, um eine Stärkung des Gesundheitssystems zum Beispiel umzusetzen. Ob man so auch den Staat stärkt, steht in den Sternen.

Könnte das umstrittene EU-Mercosur-Abkommen die Wirtschaft retten?
Der Freihandelsvertrag hat zwei Seiten. Einerseits wird ein leichterer Zugang zu bestimmten Produkten ermöglicht und andererseits werden den Ländern viele Instrumente aus der Hand genommen. Subventionen, Verkehrskapitalkontrollen oder eine Politik, die einheimische Hersteller bevorzugt, sind dann nicht mehr möglich. Deswegen gibt es ein Risiko, dass die Exporte steigen, aber die Importe sogar mehr. Außerdem hat die Orientierung auf Rohstoffexporte massive Umweltfolgen. Das gilt für die Soja- und Rindfleischproduktion bis in den Amazonas, aber auch für mineralische Rohstoffe. Brasilianische Unternehmen geraten immer dann mit der Regierung in Konflikt, wenn Handelsverträge eine ökologische Politik verlangen. Die Unternehmer vertreten den Standpunkt, dass sie sich das nicht leisten können. Eigentlich sind Handelsverträge der perfekte Hebel, um Umweltstandards durchzusetzen. Die fehlen bisher aber noch. Ich glaube auch nicht, dass das Abkommen einen Wirtschaftsschub in Lateinamerika hervorruft.


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Inwiefern verstärken die instabilen Regierungen die Krise?
Das bedingt sich gegenseitig: Politische Instabilität ist Gift für die Ökonomie. In Ländern wie Peru hat man sich mittlerweile darauf eingestellt. Nun wurde der vierte oder fünfte Präsident wegen Korruption des Amtes enthoben. Fast alle Vorgänger sind im Gefängnis. Die Unternehmen haben das eingepreist und wissen, woher die Instabilität kommt. Aber in Argentinien ändern sich durch den starken Rechts-Links-Wechsel immer wieder die Spielregeln: Von einer liberalen, exportorientierten Politik bis hin zur Reduzierung der Landesöffnung. Das ist für unternehmerisches Handeln, die Produktivität, die Schaffung von Arbeitsplätzen und für Investitionen Gift. Diese starke Wechselbeziehung zwischen politischer und ökonomischer Instabilität schlägt sich auch im Wechselkurs nieder. So kann niemand Exporte planen.

Mehr zum Thema: Das Leid der Entwicklungs- und Schwellenländer

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