Pandemiebekämpfung Diese Anreize überzeugen auch den letzten Impfskeptiker

Um sich der Herdenimmunität anzunähern müssen Impfangebote und -Informationen so niedrigschwellig wie möglich sein, fordern Ökonomen. Dabei ist es auch wichtig, nicht alle Gründe für Impfzögerlichkeit über einen Kamm zu scheren. Quelle: Imago

An Impfstoff gegen Covid-19 mangelt es längst nicht mehr, dafür offenbar an Impfbereitschaft. Ansätze, um mehr Menschen vom Impfen zu überzeugen, gibt es viele. Aussichtsreich aber sind Forschern zufolge nur wenige.

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Fernsehkameras und Konfettiregen erwarten LaTonda Anderson, als sie von der Arbeit nach Hause kommt. Zuerst, erzählt sie später einem lokalen TV-Sender, hält sie das Ganze für einen Scherz oder eine Verwechslung. Dann ruft ihr eine freudig gestimmte Dame die Worte „Herzlichen Glückwunsch, LaTonda!“ zu. Sie steht vor einem bunten Strauß an Luftballons, hält einen überdimensionierten Scheck in der Hand. „Du hast eine Million Dollar gewonnen“, sagt die lächelnde Fremde. „Ich gratuliere!“

LaTonda Anderson hat weder einen Lottoschein ausgefüllt noch an einer TV-Gameshow teilgenommen. Sie hat sich lediglich impfen lassen. Anderson, deren glücklicher Moment auf YouTube zu sehen ist, ist eine von Dutzenden Gewinnern der Verlosung „MI Shot to Win“. Das „MI“ steht für den US-Bundesstaat Michigan, der „Shot“ für eine Impfdosis gegen Covid-19. Michigans Gouverneurin Gretchen Whitmer hatte die Impflotterie Anfang Juli ins Leben gerufen. Die Aussicht auf Geldpreise sollte die Impfquote in dem US-Bundesstaat innerhalb eines Monats um zehn Prozent steigern. Gelungen ist das bei Weitem nicht: Im Juli stieg der Prozentsatz der Einwohner Michigans, die mindestens einmal geimpft sind, nur um 1,7 Prozent.

War das große Problem vieler Impfkampagnen noch vor wenigen Wochen, dass zu wenige Impfdosen zu vielen Impfwilligen gegenüberstanden, hat sich die Lage inzwischen umgekehrt: Impfstoff gegen Covid-19 gibt es genug, nur will sich offenbar kaum jemand mehr impfen lassen. Das gilt auch für Deutschland. Anfang Juli waren es noch mehr als 300.000 Deutsche täglich, die sich erstmalig impfen ließen, zuletzt war diese Zahl bundesweit nur noch fünfstellig.

Dabei kann von einer Herdenimmunität noch lange keine Rede sein. Laut aktueller Einschätzung des Robert-Koch-Instituts müssten mindestens 85 Prozent der 12- bis 59-Jährigen und 90 Prozent der Über-60-Jährigen vollständig gegen Corona geimpft sein, um die Pandemie zu beenden. Kein Land der Welt erreicht diese Werte derzeit auch nur ansatzweise. In Deutschland etwa sind bislang nur knapp 61 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal geimpft. Was also tun, um auch die restlichen 39 Prozent noch zu überzeugen?

Lotterien auf Staaten- oder Landesebene scheinen schon mal nicht die Lösung zu sein. Das zeigte nicht erst das jüngste Experiment in Michigan. Als erster US-Bundesstaat hatte Ohio bereits ab Mitte Mai fünf Wochen lang eine Million US-Dollar unter seinen geimpften Einwohnern verlost. Danach verglichen Forscher die Entwicklung der Impfraten in Ohio mit der im Rest des Landes – und konnten keinerlei Zusammenhang zwischen verlostem Geld und steigenden Impfzahlen feststellen.

Im Gegenteil: Die Zahl der Impfungen hatte im Lotteriezeitraum in Ohio sogar schneller abgenommen als im Rest der USA. Hat die als Anreiz gedachte Gewinnmöglichkeit die Menschen in Ohio also sogar eher abgeschreckt?

„Menschen reagieren auf Anreize nicht wie Ratten, die Hebel betätigen, um an Futter zu kommen“, schreibt der amerikanische Wirtschaftspsychologe George Loewenstein. Stattdessen versuchten sie zu interpretieren, was der angebotene Anreiz über das aussagt, was von ihnen erwartet wird. Tatsächlich zeigen wirtschaftspsychologische Studien: Sind Menschen sich unschlüssig, ob etwas gut oder schlecht für sie ist, hilft ihnen eine angebotene Bezahlung, sich zu entscheiden – und zwar dagegen. Im Falle einer bezahlten Corona-Impfung besteht demnach die Gefahr, dass sich die Annahme breitmacht, die Impfung an sich sei etwas Schlechtes.

Eine europaweite Umfrage des „Hamburg Center for Health Economics“ vom Juni 2021 bestätigt das. 35 Prozent der Deutschen stimmten dort der Aussage zu, dass ein von der Regierung bereitgestellter Impfanreiz vermutlich bedeute, mit dem Impfstoff sei etwas faul. In anderen Ländern ist die Bevölkerung offenbar sogar noch skeptischer. In Frankreich etwa bejahten die Aussage 43 Prozent der Befragten, in Italien sogar die Hälfte. Nicht gerade die besten Voraussetzungen, um sich der Herdenimmunität anzunähern.

Die Karlsruher Ökonomin Nora Szech hat zuletzt zu Möglichkeiten geforscht, die Impfmotivation in der Bevölkerung zu steigern. Sie hat in ihren Studien ebenfalls festgestellt, dass sich finanzielle Anreize negativ auf die Impfmotivation auswirken können – allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt: Geringe Geldbeträge könnten demotivierend wirken, sagt die Wissenschaftlerin. Aber auch: „Wenn dreistellige Beträge im Spiel sind, zeichnet sich ein sehr robuster Anstieg der Impfbereitschaft ab.“ Bei 100 Euro Bonus seien etwa 80 Prozent impfbereit, bei 500 Euro sogar annähernd 90 Prozent.

Auch wenn die Lösung, die Nora Szech vorschlägt, auf den ersten Blick kostspielig anmutet: Sinn ergeben höhere finanzielle Entlohnungen auch aus ökonomischer Sicht. Das ifo Institut und das „Centre for European Policy Studies“ schätzen den Wert, den jede zusätzlich verabreichte Impfdosis für die Gesellschaft hat, auf etwa 1500 Euro. „Das, was man den Menschen dann abgeben würde, wäre nur ein Bruchteil davon“, sagt Szech. Diese Rechnung würde auch dann noch aufgehen, wenn es sich um die von ihr geforderten 500 Euro pro Impfung handelt.

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