Parlamentswahlen Tabula rasa in Frankreich

Heute beginnt die Parlamentswahl, die dem neuen Präsidenten Macron die absolute Mehrheit sichern könnte. Die alten Parteien der Republikaner und Sozialisten könnten in der politischen Versenkung verschwinden.

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In einem Wahllokal in Lyon: Die Franzosen waren zum ersten Wahlgang ihrer Parlamentswahlen an die Urnen gerufen worden. Quelle: dpa

Paris Frankreichs junger Staatspräsident Emmanuel Macron steht kurz vor seinem größten Triumph: Bei der Parlamentswahl an diesem und dem folgenden Wochenende könnte er die absolute Mehrheit der 577 Abgeordneten erreichen. Umfragen sprechen seiner Bewegung „La République en Marche“ zwischen 300 und 430 Mandate in der Nationalversammlung zu. Damit hätte der 39-Jährige, der noch vor einem Jahr vielen Franzosen völlig unbekannt war, im Parlament freie Bahn für sein ehrgeiziges Reformprogramm.

Noch kurz nach seinem Sieg bei der Präsidentschaftswahl am 7. Mai dachten viele Beobachter, die Franzosen würden Macron im Parlament die absolute Mehrheit verweigern. Die konservativen Republikaner träumten gar davon, sie würden die Majorität erreichen und könnten Macron dann ihren Willen aufzwingen.

Sie alle haben den Willen der Franzosen unterschätzt, Tabula rasa zu machen, die alten Parteien der Republikaner und Sozialisten in den politischen Orkus zu befördern. Mittlerweile graust es sowohl den Konservativen als auch der Linken beim Gedanken an das Ergebnis. „Wir stehen vor einer gewaltigen Klatsche, ich bin froh, wenn es endlich vorbei ist“, zitieren französische Medien den konservativen Spitzenkandidaten François Baroin.

Bei den Sozialisten klingt es ähnlich: „Wir werden eine heftige Abreibung erhalten.“ Die Konservativen haben derzeit 190 Mandate, im schlimmsten Fall werden sie auf 100 zurückfallen. Ihr schwacher Trost ist, dass sie damit immer noch die stärkste Kraft der Opposition bilden werden. Denn die sozialistische PS wird noch viel heftiger geschoren werden: Von der absoluten Mehrheit, die sie 2012 errungen hatte, dürfte sie auf 50 Abgeordnete zurück gestutzt werden.

Die weit links stehende Bewegung „La France insoumise“, das unbeugsame Frankreich von Jean-Luc Mélenchon, hat sich ebenfalls von ihren hochfahrenden Träumen einer eigenen Mehrheit verabschieden müssen. Sie dürfte bei rund 30 Mandaten landen, eine brutale Ernüchterung. Genau so geht es auch dem rechtsextremen Front National. Die Partei der glücklosen Kandidatin Marine Le Pen zerfällt mittlerweile in unverdrossene Euro-Gegner und Frontisten, die einsehen, dass Frankreich sich nicht vom Euro verabschieden will und wird – also muss der FN sein Programm ändern.

Im ersten Wahlgang an diesem Sonntag wird nur in ganz wenigen Wahlkreisen die Entscheidung fallen, da nur die- oder derjenige sofort gewählt ist, der mehr als 50 Prozent der Stimmen erhält. Alle Kandidaten, die mindestens 12,5 Prozent der Wahlberechtigten hinter sich scharen können, gelangen in den zweiten Wahlgang am 18 Juni. Dann genügt die relative Mehrheit.


Radikalste politische Neuordnung seit de Gaulle

Frankreich hat ein reines Mehrheitswahlrecht, alle Stimmen, die nicht zum Erhalt eines Mandats führen, fallen unter den Tisch. Bei dieser Wahl scheint sich die alte Regel zu bestätigen, dass die Franzosen dem neuen Präsidenten freie Bahn geben und keine Mehrheit in der Nationalversammlung wünschen, die ihn aufhalten könnte. Damit steht das Land vor einer radikalen politischen Neuordnung, wie es sie seit 1958, seit der Einführung der Fünften Republik durch Charles de Gaulle, nicht mehr gegeben hat.

Unsere Nachbarn machen in einer Gründlichkeit reinen Tisch, wie es nur vergleichbar ist mit dem Großreinemachen im Italien der 90er-Jahre, als die Christdemokraten und die Sozialisten nach schweren Korruptionsaffären abserviert wurden.

In einigen Wahlkreisen wird es dennoch spannend. So stehen sich etwa in Marseille der Linksaußen Jean-Luc Mélenchon, die En-Marche-Kandidaten Corinne Versini und der Sozialist Patrick Menucci gegenüber. Mélenchon gilt als Favorit.

In der südfranzösischen Camargue kämpft die En-Marche-Kandidatin Marie Sara, eine frühere Torera, gegen den Mandatsinhaber Gilbert Collard vom rechtsextremen Front National. In einem Wahlkreis des Département Alpes-de-Haute-Provence bewirbt sich der Regierungssprecher Christophe Castaner aus einer schwierigen Position heraus für den Sitz: In diesem Wahlkreis erhielt Macron nur wenige Stimmen. Dennoch könnte Castaner es schaffen. „Unser Freund hat Le Pen gewählt, aber jetzt will er für Castaner stimmen, damit Macron nicht behindert wird“, sagt ein junges Paar in Manosque, wo Castaner gemeinsam mit dem Premier Edouard Philippe Wahlkampf machte.

Castaner war vorher Sozialist, Philippe Konservativer – nun arbeiten sie gemeinsam für Macron. „Ich weiß, sie brauchen ihn hier in der Region, aber ich brauche Christophe noch dringender in Paris“, witzelte Philippe. „Es sieht so aus, als verstünden wir uns ganz gut“, scherzte Castaner zurück. Macron hat erreicht, was Frankreich bislang stets abgelehnt hatte: Die Zusammenarbeit von Menschen über die Parteigrenzen hinweg.

Auf seine Wiederwahl hofft auch Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire im Departement Eure. Der perfekt Deutsch sprechende Politiker muss sich gegen konservative Herausforderer behaupten, die ihn als Verräter behandeln, weil er sich Macron angeschlossen hat. In Paris hofft der junge Staatssekretär für die digitale Wirtschaft Mounir Mahjoubi auf den Einzug ins Parlament.


Schneller als der Schall

Auch er hat keinen leichten Wahlkreis: Mit erst 33 Jahren steht er Jean-Christophe Cambadelis gegenüber, einem Sozialisten, der seit Jahrzehnten hier gewählt wurde. Bei der Präsidentschaftswahl hatte Macron allerdings in der französischen Hauptstadt 90 Prozent der Stimmen erreicht, deshalb rechnet man damit, dass En Marche in Paris fast sämtliche Wahlkreise erobern wird. Für alle Minister gilt, dass sie im Falle ihres Scheiterns an der Urne die Regierung verlassen müssen.

Macrons junge Bewegung, die sich erst im Juli als Partei konstituieren wird, hat bereits einen handfesten Skandal um die möglicherweise illegalen Immobiliengeschäfte ihres Generalsekretärs Richard Ferrand zu verkraften. Doch das hat ihr im Wahlkampf überhaupt nicht geschadet.

Genauso wenig wie Macrons Absicht, große Teile des Ausnahmezustandes als normales Recht zu verewigen, ein aus rechtsstaatlicher Sicht zumindest zweifelhaftes Vorhaben. Nicht einmal die Gewerkschaften trauen sich derzeit, gegen die beabsichtigte Arbeitsrechtsreform vorzugehen.

Macron bewegt sich derzeit schneller als der Schall. Doch nach der Wahl beginnt die lange Strecke der Verwirklichung seiner Reformen. Viele Franzosen, zwischen 40 und 50 Prozent, fühlen sich durch die Veränderungen verunsichert, die der Präsident vorhat. Er gefällt ihnen, doch sie trauen ihm nicht vollständig über den Weg.

In der Vergangenheit ist die Euphorie der Franzosen manchmal genauso schnell verflogen, wie sie entflammt war. „Wir Franzosen sind ein launisches Volks, lange bleibt es still, doch dann kommt es plötzlich zur Eruption“, philosophiert der Gewerkschaftschef Jean-Claude Mailly von Force Ouvrière. Angesichts der Riesenwelle, die Macron derzeit durchs Land trägt, taucht Mailly aktuell aber lieber ab.

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