Präsidentschaftswahlen Brasilien steuert auf eine schwere Krise zu

Brasilien: Eine schwere Finanzkrise droht Quelle: AP

Vor der Präsidentschaftswahl in Brasilien setzte die Wirtschaft auf den Rechtspopulisten Bolsonaro. Aber weder er noch sein stärkster Konkurrent haben ein überzeugendes Konzept. Dem Land droht weitere Stagnation.

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Es sind die spannendsten Wahlen seit langem in Brasilien, weil das Ergebnis vorher so völlig offen war. Bei der letzten Debatte der Präsidentschaftskandidaten am Donnerstagabend waren die Diskussionen zwischen den sieben Anwärtern so langweilig wie vorhersehbar. Der Hauptgrund: Der in den Umfragen führende Kandidat, der Rechtspopulist Jair Bolsonaro hatte kurz zuvor abgesagt. Angeblich auf Anraten seiner Ärzte. Der Ex-Militär hat seit einer Messerattacke im Wahlkampf fast drei Wochen im Krankenhaus gelegen und ist erst vor einer Woche entlassen worden. Der angeschlagene Gesundheitszustand hinderte Bolsonaro aber nicht daran, zeitgleich zur Debatte dem zweitgrößten Sender des Landes, TV Record ein halbstündiges Interview zu geben. Der Hintergrund: Der Sender gehört dem Evangelisten-Bischof Edir Macedo. Erst letztes Jahr hat sich Bolsonaro medienwirksam im Fluss Jordan taufen lassen und ist Evangelikaler geworden. Auf deren Stimmen kann Bolsonaro zählen.

Inzwischen führt der 63-jährige Bolsonaro in den Umfragen mit 35 Prozent der Stimmen. Er konnte diesen Vorsprung in den letzten Tagen sogar noch ausbauen vor dem Zweitplatzierten, dem Ex-Bürgermeister und Bildungsminister Fernando Haddad von der linken Arbeiterpartei, der bei 22 Prozent in den Polls stagniert. Als diese Woche Gerüchte auftauchten, dass Bolsonaro sogar schon im ersten Wahldurchgang gewinnen könnte, war das für die Märkte das lange erwartete Startsignal: Sofort begannen die Investoren auf Brasilien zu setzen. Die Börse in São Paulo legte zeitweise um fast acht Prozent zu. Der Dollar verlor fünf Prozent gegen den Real. Vor allem auch ausländische Investoren kauften Aktien und Anleihen aus Brasilien. Dabei hält die Rating-Agentur Standard & Poor's Bolsonaro als Präsident für ein höheres Risiko für die Wirtschaft als Haddad. Bolsonaro sei ein politischer Outsider und könnte mehr Probleme haben, sein Wirtschaftsprogramm umzusetzen, heißt es bei S&P.

Doch diese Sorgen scheinen die Investoren nicht zu teilen. Für sie ist ausgemacht, dass Bolsonaro als Präsident die nötigen wirtschaftlichen Reformen vorantreiben wird.

Doch damit könnten sie falsch liegen. Denn Brasilien steuert auf eine schwere Finanzkrise zu. Das Nachbarland Argentinien macht vor, wie schnell ein Land derzeit umkippen kann. Argentinien ist in wenigen Monaten vom Star der Schwellenländer zum Bittsteller beim IWF abgestiegen. In Brasilien ist das Haushaltsdefizit mit 7,6 Prozent BIP sogar noch grösser als in Argentinien. „Es ist das größte Budgetdefizit weltweit“, warnen die Experten der Investmentbank JP Morgan. Die Staatsschulden bewegen sich auf 80 Prozent des BIP zu. Deswegen ist der Real seit März um ein Drittel zum US-Dollar abgesackt. Jeder Kandidat müsse schnell überzeugende Reformen vorweisen, wie er das Staatsdefizit senken will, so JP Morgan. „Die Märkte werden dem nächsten Präsidenten keinen Vertrauensvorschuss mehr geben.“

Kein Wunder: Die Wirtschaft treibt seit nun fast vier Jahren weitgehend führungslos vor sich hin. Nach einer dreijährigen Rezession stagniert die Wirtschaft bereits wieder. 13 Millionen Brasilianer sind arbeitslos. Doppelt so viele sind unterbeschäftigt. Die achtgrößte Ökonomie weltweit verliert zunehmend den Anschluss in der Weltwirtschaft. Seine Infrastruktur, das Bildungssystem verschlechtern sich rapide. Bei Themen wie Digitalisierung, Industrie 4.0, Big Data, Künstliche Intelligenz wird die Industrie des Landes hoffnungslos abgehängt. Der Staat ist extrem ineffizient. Das Rentensystem ist nicht mehr finanzierbar. In geschätzt fünf Jahren würde das gesamte Staatsbudget für Rentenzahlungen draufgehen.

Doch das sind alles keine Themen im Wahlkampf. Der ehemalige militärische Sportlehrer Bolsonaro gibt sogar offen zu, dass er keine Ahnung von Wirtschaft hat. Bei Fragen und Zweifeln solle man sich doch direkt an seinen Wirtschaftsberater wenden. Das ist der Investmentbanker Paulo Guedes, der auch als Gründer einer Wirtschaftsuniversität erfolgreich war und sehr wohlhabend ist. Der 69-jährige Guedes gilt als jemand, der schon immer alles besser gewusst hat.

Als Superminister für Wirtschaft, Planung, Finanzen und Privatisierungen unter Präsident Bolsonaro will er das umsetzen, was er an den Regierungen und ihren Wirtschaftspolitiken in den letzten 30 Jahren kritisiert hat. Dabei hat der Multimillionär weder jemals ein Ministerium noch eine öffentliche Verwaltung geführt.

„Das Land ist polarisiert“

Die meisten seiner Ideen für die künftige Regierung des Ex-Militärs wirken wie aus dem neoliberalen Lehrbuch gepickt – und wirken im besten Falle weltfremd. Seine zwei zentralen Vorschläge sind: Er will alle Staatsunternehmen verkaufen und damit die Schulden des Staates zahlen. Die derzeitige Rentenversicherung nach dem Umlagesystem soll umgestellt werden auf ein Kapitaldeckungsverfahren. „Die Chancen, dass diese Vorschläge umgesetzt werden, tendieren gegen Null“, sagt Pérsio Arida, Investmentbanker mit langjähriger Erfahrung in Ministerien. Einerseits hat es in Brasilien noch nie Sympathien, geschweige denn Mehrheiten gegeben für liberale Wirtschaftskonzepte. Andererseits wird jede einzelne von Guedes „Reformen“ gut organisierte Lobbys auf den Plan rufen.

Dass Bolsonaro in seinen sechs Abgeordnetenmandaten vor allem für die kooperativen Interessen der Staatskonzerne, Beamten, Militärs gestimmt hat – alles vergessen: Guedes habe ihn umgestimmt, sagt Bolsonaro.

Bolsonaro gelingt es, sich trotz seiner fast 30 Jahre als Abgeordneter als Gegenkandidat der etablierten Politik zu positionieren. Er wird von seinen Fans enthusiastisch als „Phänomen“ oder Mythos“ gefeiert – egal wie rechtsradikal, homophob, gewaltverherrlichend und frauenfeindlich er auftritt. Sein Vize ist ein ehemaliger General, der offen mit Putsch droht, sollte ihn der Kongress am Regieren hindern. Seine Unterstützer halten zu ihm. Sie finden sich quer durch die Gesellschaft: Ob reich oder arm, ob jung oder alt, sie eint die Wut auf das korrupte politische Establishment, vor allem die Arbeiterpartei mit ihrem Anführer Lula.

Sie sind empört über die fehlende Sicherheit im Land mit zuletzt 64.000 Morden im Jahr und fordern die Bewaffnung der Zivilgesellschaft. Überall im Land finden jetzt über soziale Medien organisierte Flashmobs statt. Spontane Wahlkampfkundgebungen, bei denen meist jüngere Leute, Waffen imitieren – die Wahlkampfgeste Bolsonaros. Viele Unternehmer unterstützen Bolsonaro – die meisten geben es nur nicht öffentlich zu. Die neoliberalen Vorschläge des Investmentbanker Guedes an der Seite Bolsonaros ist für sie das willkommene Feigenblatt, um für den Diktaturnostalgiker Bolsonaro stimmen zu können.

Die Nummer 2 in den Umfragen, Fernando Haddad von der linken Arbeiterpartei überzeugt die Wirtschaft jedoch noch weniger. Das Problem des hohen Haushaltsdefizits sei einfach zu lösen, erläutert der 55-jährige Rechtsanwalt, Ökonom und Philosophieprofessor. Da müsse er sich nur einmal mit den Gouverneuren und Bürgermeistern zusammensetzen - und schon wäre das Defizit um die Hälfte gesenkt.

Haddad bestreitet den Wahlkampf offiziell erst seit drei Wochen. Mitte September ernannte ihn der Ex-Präsident Luíz Inácio Lula da Silva persönlich zum Spitzenkandidaten der Arbeiterpartei. Das geschah aus dem Gefängnis heraus. Denn dort sitzt Lula seit fünf Monaten. Verurteilt ist er zu zwölf Jahren wegen Korruption und Geldwäsche. Doch den Armen Brasiliens – vor allem im Nordosten, wo Lula herkommt – ist das egal. Sie halten zu ihrem Idol, dem 72-jährigen, der sich vom Schuhputzer und Schlosser zum Gewerkschaftsführer und zweifachen Präsidenten hochgearbeitet hat. Und so führt Lula immer noch in den Umfragen mit einer Popularitätsrate von 40 Prozent. Mit dieser anhaltenden Beliebtheit könnte Lula seinen politischen Ziehsohn Haddad ins Amt verhelfen – obwohl die ebenfalls von ihm auserkorene Nachfolgerin Dilma Rousseff sich im Präsidentenamt ab 2010 als inkompetent erwies.

Haddad will da weitermachen, wo Lula aufgehört hat vor acht Jahren: Als Brasilien wuchs, die Armen in die Mittelschicht aufstiegen und das Land dafür in der Welt bewundert wurde. Jede Mitschuld an dem gewaltigen Korruptionsskandal „Lava Jato“ („Autowaschanlage“) um den staatlichen Ölkonzern Petrobras streitet Haddad ab. Dabei fand dieser genau in den 14 Regierungsjahren unter Lula und seiner Nachfolgerin Rousseff statt. Die katastrophalen Fehlentscheidungen, mit denen Rousseff die Wirtschaft in die Rezession gesteuert hat, übergeht Haddad geflissentlich – alles Sabotage der Opposition, behauptet er.

Die Fronten im Präsidentschaftswahlkampf haben sich geklärt. Doch Erleichterung bringt das nicht. „Das Land ist polarisiert“, fürchtet J.P. Morgan, „und keines der möglichen Wahlergebnisse lässt mittelfristig eine Reformagenda hoffen.“

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