Präsidentschaftswahlen Brasilien steuert auf eine schwere Krise zu

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„Das Land ist polarisiert“

Die meisten seiner Ideen für die künftige Regierung des Ex-Militärs wirken wie aus dem neoliberalen Lehrbuch gepickt – und wirken im besten Falle weltfremd. Seine zwei zentralen Vorschläge sind: Er will alle Staatsunternehmen verkaufen und damit die Schulden des Staates zahlen. Die derzeitige Rentenversicherung nach dem Umlagesystem soll umgestellt werden auf ein Kapitaldeckungsverfahren. „Die Chancen, dass diese Vorschläge umgesetzt werden, tendieren gegen Null“, sagt Pérsio Arida, Investmentbanker mit langjähriger Erfahrung in Ministerien. Einerseits hat es in Brasilien noch nie Sympathien, geschweige denn Mehrheiten gegeben für liberale Wirtschaftskonzepte. Andererseits wird jede einzelne von Guedes „Reformen“ gut organisierte Lobbys auf den Plan rufen.

Dass Bolsonaro in seinen sechs Abgeordnetenmandaten vor allem für die kooperativen Interessen der Staatskonzerne, Beamten, Militärs gestimmt hat – alles vergessen: Guedes habe ihn umgestimmt, sagt Bolsonaro.

Bolsonaro gelingt es, sich trotz seiner fast 30 Jahre als Abgeordneter als Gegenkandidat der etablierten Politik zu positionieren. Er wird von seinen Fans enthusiastisch als „Phänomen“ oder Mythos“ gefeiert – egal wie rechtsradikal, homophob, gewaltverherrlichend und frauenfeindlich er auftritt. Sein Vize ist ein ehemaliger General, der offen mit Putsch droht, sollte ihn der Kongress am Regieren hindern. Seine Unterstützer halten zu ihm. Sie finden sich quer durch die Gesellschaft: Ob reich oder arm, ob jung oder alt, sie eint die Wut auf das korrupte politische Establishment, vor allem die Arbeiterpartei mit ihrem Anführer Lula.

Sie sind empört über die fehlende Sicherheit im Land mit zuletzt 64.000 Morden im Jahr und fordern die Bewaffnung der Zivilgesellschaft. Überall im Land finden jetzt über soziale Medien organisierte Flashmobs statt. Spontane Wahlkampfkundgebungen, bei denen meist jüngere Leute, Waffen imitieren – die Wahlkampfgeste Bolsonaros. Viele Unternehmer unterstützen Bolsonaro – die meisten geben es nur nicht öffentlich zu. Die neoliberalen Vorschläge des Investmentbanker Guedes an der Seite Bolsonaros ist für sie das willkommene Feigenblatt, um für den Diktaturnostalgiker Bolsonaro stimmen zu können.

Die Nummer 2 in den Umfragen, Fernando Haddad von der linken Arbeiterpartei überzeugt die Wirtschaft jedoch noch weniger. Das Problem des hohen Haushaltsdefizits sei einfach zu lösen, erläutert der 55-jährige Rechtsanwalt, Ökonom und Philosophieprofessor. Da müsse er sich nur einmal mit den Gouverneuren und Bürgermeistern zusammensetzen - und schon wäre das Defizit um die Hälfte gesenkt.

Haddad bestreitet den Wahlkampf offiziell erst seit drei Wochen. Mitte September ernannte ihn der Ex-Präsident Luíz Inácio Lula da Silva persönlich zum Spitzenkandidaten der Arbeiterpartei. Das geschah aus dem Gefängnis heraus. Denn dort sitzt Lula seit fünf Monaten. Verurteilt ist er zu zwölf Jahren wegen Korruption und Geldwäsche. Doch den Armen Brasiliens – vor allem im Nordosten, wo Lula herkommt – ist das egal. Sie halten zu ihrem Idol, dem 72-jährigen, der sich vom Schuhputzer und Schlosser zum Gewerkschaftsführer und zweifachen Präsidenten hochgearbeitet hat. Und so führt Lula immer noch in den Umfragen mit einer Popularitätsrate von 40 Prozent. Mit dieser anhaltenden Beliebtheit könnte Lula seinen politischen Ziehsohn Haddad ins Amt verhelfen – obwohl die ebenfalls von ihm auserkorene Nachfolgerin Dilma Rousseff sich im Präsidentenamt ab 2010 als inkompetent erwies.

Haddad will da weitermachen, wo Lula aufgehört hat vor acht Jahren: Als Brasilien wuchs, die Armen in die Mittelschicht aufstiegen und das Land dafür in der Welt bewundert wurde. Jede Mitschuld an dem gewaltigen Korruptionsskandal „Lava Jato“ („Autowaschanlage“) um den staatlichen Ölkonzern Petrobras streitet Haddad ab. Dabei fand dieser genau in den 14 Regierungsjahren unter Lula und seiner Nachfolgerin Rousseff statt. Die katastrophalen Fehlentscheidungen, mit denen Rousseff die Wirtschaft in die Rezession gesteuert hat, übergeht Haddad geflissentlich – alles Sabotage der Opposition, behauptet er.

Die Fronten im Präsidentschaftswahlkampf haben sich geklärt. Doch Erleichterung bringt das nicht. „Das Land ist polarisiert“, fürchtet J.P. Morgan, „und keines der möglichen Wahlergebnisse lässt mittelfristig eine Reformagenda hoffen.“

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