Preisanstieg Welche Schlussfolgerungen die "gefühlte Inflation" erlaubt

Wie Hans Wolfgang Brachinger von der Universität Fribourg die Inflationsmessung revolutionierte und welche Schlussfolgerungen sein „Index der wahrgenommenen Inflation“ erlaubt.

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Hans Wolfgang Brachinger

Hans Wolfgang Brachinger erinnert sich noch daran, als wäre es gestern gewesen. Er saß in einem schmucklosen Büro an der Columbia-Universität in New York. Der Plotter malte zwei Kurven: eine für die offizielle Inflationsrate des Statistischen Bundesamts, eine für den von ihm erfundenen „Index der wahrgenommenen Inflation“ (IWI). Und siehe da: Kurz nach der Euro-Einführung schoss der IWI auf elf Prozent in die Höhe, während die amtliche Inflation bei zwei Prozent herumdümpelte. „Da habe ich mich riesig gefreut“, erzählt der gebürtige Münchner, der heute an der Universität Fribourg in der Schweiz lehrt und forscht. „Ich hatte eine Erklärung für ein Phänomen gefunden, das in aller Welt für Aufregung gesorgt hat.“

Denn der gewaltige Anstieg seines IWI-Index nach der Euro-Einführung bewies: Der Euro war eben doch ein Teuro, genau wie es die Menschen fast überall in Europa empfunden hatten. Und genau so verhält es sich auch jetzt wieder: Während angesichts explodierender Preise für Benzin und viele Lebensmittel zwar auch die offizielle Inflationsrate gestiegen ist, spiegelt der IWI unser Inflationsempfinden viel besser wider. Er liegt aktuell mit 11,6 Prozent im April sogar noch höher als nach der Einführung des Euro-Bargelds 2002.

Ausgangspunkt: Wie häufig kaufen wir ein Produkt?

Ausgangspunkt des IWI ist die Überlegung, dass wir Preisänderungen umso stärker wahrnehmen, je häufiger wir ein Produkt kaufen: Wenn Bier, Brot und Benzin teurer werden, führt das zu einem „Alles-wird-teurer-Gefühl“; wenn dagegen Computer billiger werden, entgeht das weitgehend unserer Wahrnehmung, weil wir höchstens alle paar Jahre mal einen kaufen. Daher nimmt Brachinger zwar den gleichen Warenkorb wie das Statistische Bundesamt, gewichtet die Güter darin aber anders: Nicht mit ihrem Anteil an den Gesamtausgaben des Haushalts, sondern mit ihrer Kaufhäufigkeit. Außerdem berücksichtigt er, dass die Menschen dazu neigen, Preiserhöhungen stärker wahrzunehmen als Preissenkungen – ein Phänomen, das Ökonomen „Verlustaversion“ nennen und das in zahlreichen Experimenten nachgewiesen wurde.

Die gefühlte Inflation weicht von der amtlichen Teuerungsrate stark ab Quelle: Grafik: WirtschaftsWoche

Am offiziellen Verbraucherpreisindex möchte Brachinger mit seinem IWI zwar nicht rütteln – der hat für ihn weiterhin seine Berechtigung. Aber der Statistik-Experte ist überzeugt, dass sein Index eine wichtige Ergänzung der amtlichen Inflationsrate liefert, eben weil er die Alltagserfahrung und das subjektive Empfinden der Konsumenten misst. Und das ist es schließlich, was ihr Verhalten prägt – und nicht der amtliche Verbraucherpreisindex. „Wer den Konsumenten ernst nimmt“, so Brachinger, „der kommt an der Inflationswahrnehmung nicht vorbei.“ Deshalb dürfte der IWI-Index auch besser geeignet sein, die künftige Konsumentwicklung abzuschätzen. „Ist die wahrgenommene Inflation höher, spart man eher bei den größeren Anschaffungen“, ist Brachinger überzeugt. Der Grund: Die Menschen legen Reserven an, um den teurer gewordenen Alltagskonsum aufrechterhalten zu können. Die Zahlen belegen das: „Wir beobachten seit Langem steigende Sparquoten bei steigender Inflationswahrnehmung“, sagt der studierte Mathematiker.

Berechnungen auch für EZB interessant

Hochbrisant sind Brachingers Berechnungen aber auch für die Währungshüter der Europäischen Zentralbank (EZB). Denn für sie sind die Inflationserwartungen der Menschen eine ganz entscheidende Größe: Rechnen sie mit immer schneller steigenden Preisen, kann sich die Inflation leicht verselbstständigen und außer Kontrolle geraten. Deshalb schauen die EZB-Ökonomen genau auf die regelmäßig von der EU-Kommission veröffentlichten Umfragen, bei denen auch Fragen zur Inflation gestellt werden. Die geben aber nur den Anteil der Bevölkerung wieder, der mit steigenden Preisen rechnet. Der IWI erlaubt dagegen auch Rückschlüsse über das Ausmaß der erwarteten Preissteigerungen. Als Brachinger kürzlich auf einem EZB-Symposium vortrug, gab es denn auch hitzige Debatten. Anschließend ließ sich EZB-Chef Jean-Claude Trichet dessen Power-Point-Präsentation persönlich zumailen – vielleicht sogar als Munition für künftige geldpolitische Entscheidungen.

Das vollständige Interview mit Hans Wolfgang Brachinger finden Sie bei: wiwo.de/inflation.

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