Proteste gegen Erdoğan Der kranke Mann am Bosporus

Die heldenhaften Proteste in der Türkei gegen Ministerpräsident Erdoğan decken massive moralische und politische Defizite der europäischen Führungskader auf.

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Recep Tayyip Erdoğan betreibt die Politik eines Islamisten in Schlips und Kragen. Quelle: REUTERS

Seit Mitte der 1850er Jahre kam es in Europa in Mode, das sich in Auflösung befindliche osmanische Reich (ca. 1299 bis 1923), aus dem die heutige Türkei hervor ging, als den "kranken Mann am Bosporus" zu bezeichnen. Dieses im heutigen europäischen Bewusstsein kaum präsente islamische Riesenreich reichte fast von den Toren Wiens bis nach Mekka und Medina, von Ägypten bis ans schwarze Meer. Das osmanische Reich hatte Zugang zum persischen Golf und beherrschte die frühen Ölquellen dieser Welt.

Das tausendjährige Osmanien spukt in manchen nationalistischen, machtgierigen Köpfen herum. Die Idee eines neuen Osmanien ist dabei kein Einig-Reich, sondern in solchen Phantasien wird die Türkei eher als Herrscherin über einen in Kolonien aufgeteilten Vielvölkerstaat gesehen.

Recep Tayyip  Erdoğan geht deutlich weiter. Er scheint eher von einem türkischen Reich, das wenigstens von Sylt bis Triest und von der Adria bis an die persische Grenze reicht, zu träumen. Jedenfalls betreibt er unverhohlen die Politik eines Islamisten in Schlips und Kragen, der die Türkei von einem demokratischen Rechtsstaat (der die Türkei im Sinne des hierzulande viel gescholtenen und geschundenen Grundgesetzes nie war) mit Siebenmeilen-Stiefeln immer weiter entfernt.

Das Jahr der Proteste
Arabischer Frühling Quelle: dpa
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Stuttgart 21 Quelle: REUTERS
Euro (gegen Sparmaßnahmen) Quelle: dpa
Euro (gegen Euro-Rettung) Quelle: dapd
Tottenham Quelle: Reuters
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Erdoğan betreibt die Politik eines Islamisten in Schlips und Kragen 

Das Wunder, das Kemal Atatürk, der Gründer der heutigen Türkei, vor nicht einmal 100 Jahren vollbrachte, nämlich Staat und Islam strikt voneinander zu trennen und die Türkei gegen erhebliche Widerstände dem Westen zu öffnen, steht im Begriff von Erdoğan aus der Geschichte wieder getilgt zu werden. Es war eine wenig glückliche Fügung dieser Geschichte, dass der Laizismus in der Türkei vor allem vom Militär verteidigt wurde. Das war nicht nach dem Geschmack Erdoğans und das war auch nicht nach dem Geschmack (vor allem) der Westlinken in Europa.

Die Rolle der sozialen Netzwerke

Beleidigung des Türkentums, Beleidigung des Islam. Das scheinen Erdoğans Lieblingsstraftatbestände zu sein, mit denen er Jene verfolgen lässt, die den Völkermord der Türkei an einer Million Armeniern thematisieren und eben auch Journalisten, Künstler, Intellektuelle oder auch einfach nur frei leben wollende Menschen, die ihm missliebig sind.

Man stelle sich einmal vor, dass ein deutscher Politiker sich mit der Forderung hervortäte, Beleidigung des Deutschtums als Straftatbestand ins StGB aufnehmen zu wollen. Etwa so: Wer das Deutsche an und für sich, schlechthin oder im Besonderen oder im Allgemeinen durch Wort oder Tat beleidigt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren bestraft. In besonders schweren Fällen wird auf lebenslange Freiheitsstrafe erkannt.

Erdoğan, der die Scharia bevorzugt, will die Todesstrafe in der Türkei wieder einführen. Wer mag sich da noch mit dem Türkentum anlegen?

Je weiter Erdoğan sich selbst und die von ihm autokratisch beherrschte Türkei von Europa, vom Westen, von der Demokratie, den Menschenrechten, dem Rechtsstaat entfernt, desto perfekter ist es ihm gelungen seine Kritiker in der politischen Klasse des Westens und auch der Bundesrepublik, mundtot zu machen und auch hierzulande einen wohlgefälligen Mainstream auch zu erzeugen. Sowohl grün-rote Meinungsführer, als auch die neuen konservativ politisch-korrekten Führungscliquen in Deutschland verkaufen und behandeln den türkischen EU-Beitritt   - und dies in einer eigentlich ziemlich aggressiven Form, positiv und gar fröhlich verpackt - von Tag zu Tag heftiger als ausgemachte Sache, als pure Selbstverständlichkeit.

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