Proteste gegen Erdoğan Der kranke Mann am Bosporus

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Der Vergleich mit dem Arabischen Frühling ist absurd

Der Vergleich der Ereignisse in der Türkei mit dem arabischen Frühling in Tunesien, Ägypten oder gar Libyen verbietet sich. Da gibt es nichts zu vergleichen. Ein Vergleich, der sich aufdrängt, wird in der Öffentlichkeit nicht gezogen. Die Demokratiebewegung im Juni 2009 im Iran, die dort brutal, kurz und schmerzlos nieder geschlagen wurde, hatte durchaus Ähnlichkeit mit dem jetzigen Geschehen in der Türkei. In den muslimisch geprägten Ländern Iran und jetzt Türkei wollen und wollten sich die Menschen von religiöser Bevormundung befreien.

Im sogenannten arabischen Frühling verhielt es sich umgekehrt. Man hat die vorhersehbare Islamisierung bekommen, nach dem man gegen weltliche, vergleichsweise kommode Diktatoren revoltiert hatte. Während Barack Obama bei den Revolten des arabischen Frühlings im Jahr 2011 mindestens pro forma auf die Seite der Demonstranten gestellt hat, hat er die mutigen Aufständischen im Iran, die mit seinem Slogan "Yes, we can" auf die Straße gingen und die er zuvor ermuntert hatte, eiskalt im Stich gelassen. In Sachen Außenpolitik waren die Amerikaner noch nie Weltmeister.

Auch der Aufstand in der DDR vom 17. Juni 1953 oder der Aufstand gegen die russische Diktatur 1956 in Ungarn sind Lehrstücke für die heutigen politischen Entscheidungsträger. Der Westen weckte Hoffnungen, ließ dann aber diejenigen, die für die Freiheit unter diktatorischen Bedingungen wirklich kämpften, im Stich. Auch in der Türkei kämpfen Menschen jetzt für Freiheit. Und der Westen sollte nicht unter dem Stichwort der Nichteinmischung die Menschen, die in der Türkei aufbegehren, im Stich lassen.

Erdoğan nimmt den Mund sehr voll und blufft auch gern. Wenn er Konsequenzen zu spüren bekommt, wie jetzt möglicherweise mit einem klaren Abbruch der Beitrittsverhandlungen und einem Ende der Hätschelpolitik, dann könnte er auch relativ schnell kleinlaut werden, ohne dass es um irgendeine innere Einmischung in die Türkei geht. Die Freiheitsbewegung in der Türkei braucht jedenfalls keine eilfertigen Westpolitiker, die  auf dem Rücken der Demonstranten "jetzt erst recht" schreien.

Erdoğan hat seine Tarnung fallen gelassen

Um es unmissverständlich zu sagen: Erdoğan hat sich nicht erst durch seine gegen alle Regeln verstoßende Reaktion auf die Freiheitsbewegung in seinem Land für Europa disqualifiziert. Seine Reaktion hat lediglich auch dem ignorantesten Westpolitiker vor Augen geführt, dass es eine unüberbrückbare Trennlinie zwischen Europa und der von Erdoğan beherrschten Türkei gibt. Erdoğan hat lediglich den Fehler gemacht, seine Tarnung fallen zu lassen.

Wer die Türkei in die EU holen will, muss den europäischen Verfassungsgedanken, und der kennt Streit im Detail, aber keinen Kompromiss und keine Opportunitäten und keine Phantastereien in Sachen Menschenrechte, Demokratie, Rechts-und Sozialstaat - selber leben und den Menschen in den beitrittswilligen Ländern die europäische Verfassung erklären und anbieten. Für faule Kompromisse kann keine Verfassung zur Disposition gestellt werden, ohne dabei zu denaturieren.

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