Proteste gegen Erdoğan Der kranke Mann am Bosporus

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Ist die Türkei ein verlässlicher und notwendiger Natopartner?

Die Türkei, bei der plötzlich zwischen dem früher vom Militär beherrschten Land und dem heute von Erdoğan beherrschten Land oft gar nicht unterschieden wird, sei ein so verlässlicher und unverzichtbarer Nato-Partner. Diese Behauptung lohnt es sich allerdings genauer anzuschauen:

Erdoğan flirtet mit allen Ländern östlich seines Machtbereiches, die als potenzielle Nato-Gegner in Betracht kommen, zum Beispiel mit dem Iran. Die Sowjetunion als Gegner des Westens, aber auch als Gegner der muslimischen Welt, hat die Bühne der Geschichte verlassen. Und wenn die deutsche Bundeswehr mit ihren Patriot-Einheiten voller Enthusiasmus in die Türkei reist, um Erdoğans Land vor syrischen Raketenangriffen zu schützen, organisiert Erdoğan die ganze Geschichte so, dass die deutschen Soldaten in jeder Hinsicht mies behandelt werden. Verteidigungsminister Thomas de Maizière fand diesen Vorgang nicht sehr witzig, aber letzten Endes hat auch er gekuscht und die Sache schön geredet. Und die Medien haben sich, wie immer in solchen Fällen, im Wegsehen geübt.

Und jetzt der große Knall

Nicht irgendwelche "islamophoben" oder Türkei-skeptischen Spinner oder Ewig-Gestrige hierzulande haben mit ihren Mahnungen und Warnungen einen Paradigmenwechsel herbei geredet. Es hat auch keinen Erkenntnisprozess der politischen Klasse in Deutschland gegeben. Und auch bei den türkischstämmigen Migranten und deren Verbänden in Deutschland hat es keine Bewegung, keinen Laut, keine Anzeichen einer Emanzipationsbewegung gegeben.

Diese Länder wollen in die EU
Türkei Quelle: dapd
Serbien Quelle: REUTERS
Albanien Quelle: REUTERS
Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien: Quelle: REUTERS
Montenegro Quelle: REUTERS
Island Quelle: Reuters
Bosnien-Herzegowina: Quelle: REUTERS

Stattdessen passierte es in der Türkei selbst. Plötzlich haben meist Jüngere, meist in den Städten lebende, meist besser ausgebildete Menschen spontan, unverabredet und unorganisiert, aber in ganz großer Zahl den zu Hochachtung nötigenden Mut aufgebracht und mit Herz, Verstand und unter Einsatz ihrer Gesundheit und ihres Lebens ihre Stimme erhoben, um dem Erdoğanismus und der Islamisierung ihres Landes entgegen zu treten und für ihre Zukunft und ihre eigene Freiheit aufzustehen.

Immer mehr Menschen haben (ohne eine routinierte linksideologisch gerüstete, perfekt etablierte Protestkultur im Hintergrund zu haben) in einem Staat, der mit Polizeigewalt zuschlug und sogar mit Militärgewalt drohte, gezeigt, dass sie Erdoğan loswerden wollen. Und sie haben eben auch Erdoğans Freunden in der deutschen Politik die Maske vom Gesicht gerissen. Sie haben die widerwärtige Heuchelei, die die deutsche Politik beherrscht, über Nacht enthüllt. Hinter jedem Menschen, der sich heute in der Türkei Tränengas-und Wasserwerfern und Knüppelschlägern widersetzt und weiter kämpft, auch wenn schon Hunderte von Demonstranten verhaftet sind, steht eine große Zahl von Menschen, die Ähnliches denken, aber sich nicht für befähigt erachten, auf die Straße zu gehen.

Es wird in den deutschen Medien von Protesten berichtet und auch von den abwegigen Reaktionen der  Erdoğan-Maschinerie.  Dass es auch getötete Demonstranten gibt, wurde dagegen schnellstens wieder aus dem kollektiven Gedächtnis ausgeblendet. Über Dunkelziffern bezüglich Verhaftungen und unfreundlichen Behandlungen in Gefängnissen wird weder berichtet noch öffentlich nachgedacht.

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