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Proteste im Iran Ruhani oder Chamenei – wer mehr zu verlieren hat

Die anhaltenden Demonstrationen werden die Machtverhältnisse im Iran verschieben. Verlierer dürfte der gemäßigte Präsident sein – Gewinner der religiöse Führer. Denn der kontrolliert den Sicherheitsapparat des Landes.

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Dieses Foto zeigt den obersten Führer des Iran, Staatsoberhaupt Ajatollah Ali Chamenei (l), bei der Übergabe der Ernennungsurkunde für den iranischen Präsidenten Hassan Ruhani (r) in Teheran. Quelle: dpa

Dubai Durch die Proteste im Iran hat der als gemäßigt geltende Präsident Hassan Ruhani nach Einschätzung von Insidern am meisten zu verlieren. Der seit 2013 amtierende Politiker werde am stärksten mit den wirtschaftlichen Problemen des Landes verbunden, gegen die sich die Demonstrationen hauptsächlich richteten, heißt es in iranischen Regierungskreisen. Ruhani gilt im Westen als Hoffnungsträger und hatte den Iranern einen Wirtschaftsboom nach dem Atomabkommen von 2015 versprochen, der bisher jedoch nicht eingetreten ist. Sein Gegenspieler Ajatollah Ali Chamenei, das religiöse Oberhaupt des Landes, dürfte nach Einschätzung der Insider durch die Proteste dagegen an Macht gewinnen. Zwar ziele die Kritik der Demonstranten auch auf die religiöse Führung, die Demonstrationen seien für sie aber wohl keine existentielle Bedrohung. Bei wichtigen Entscheidungen im Iran hat Chamenei und nicht Ruhani das letzte Wort.

„Natürlich werden Ruhani und seine Regierung weniger Einfluss haben, insbesondere weil seine Wirtschaftspolitik von den Demonstranten kritisiert wurde“, sagt der Politikexperte Hamid Farahvaschian. „Er wird keine Macht mehr haben – und Chamenei um so mehr.“ Ein Großteil des Unmuts der Demonstranten hat mit dem großen unerfüllten Versprechen Ruhanis und seiner Regierung zu tun: Einen Wirtschaftsboom sollte der Iran erleben als Ergebnis des Atomabkommens von 2015 und der Aufhebung der Sanktionen im Gegenzug für strenge Auflagen für das umstrittene iranische Atomprogramm. Doch der Boom blieb aus, aktuell steuert die Jugendarbeitslosigkeit auf 30 Prozent zu. Die Demonstranten verlangen höhere Löhne und ein Ende der Korruption.

Einige Konservative fordern ein hartes Vorgehen gegen die Proteste, obwohl mehr Blutvergießen die schwersten Unruhen im Land seit 2009 noch anheizen könnte. Nach Angaben der Behörden wurden seit Beginn der Demonstrationen vor knapp einer Woche 21 Menschen getötet. „Bisher haben die Sicherheitskräfte nicht versucht, die Proteste zu unterbinden“, sagt ein früherer iranischer Regierungsvertreter aus dem Lager der Reformer: „Aber das wird sich ändern, falls Chamenei ein Ende der Straßenaufzüge fordert und die Demonstranten dies ignorieren.“

Die Menschen, die seit Tagen auf der Straße ihren Unmut kundtun, haben kaum eine Chance, die religiöse Führung des Landes zu stürzen. Deren Kontrolle über den Sicherheitsapparat aus Militär, Polizei und anderen Sicherheitskräften scheint intakt – und sie hat nach Einschätzung aus US-Regierungskreisen wenig Skrupel, ihn auch einzusetzen. Ruhanis Position ist dagegen weniger gesichert. Der 2013 gewählte Präsident ist ein Pragmatiker, der immer wieder mit den Hardlinern ringen muss. Auf die Proteste reagierte er mit den Worten, dass die Iraner das Recht hätten, ihre Obrigkeit zu kritisieren. Doch zugleich wächst an der Basis die Wut über hohe Preise und Korruption.

„Seine (Ruhanis) Macht im iranischen Herrschaftssystem ist beschränkt. Die Unzufriedenheit steigt, und die Menschen verlieren das Vertrauen in das Establishment“, sagt ein iranischer Regierungsvertreter. Das wahrscheinlichste Resultat der Proteste dürfte nach Einschätzung aus US-Regierungskreisen eine Diskreditierung von Ruhanis gemäßigtem Kurs und ein härteres Vorgehen des Klerus sein. Ruhani habe vor allem wirtschaftlich nicht geliefert. „Das bedeutet, er hat nicht die Rückendeckung des Volkes – und damit ist er für Chamenei entbehrlich“, sagt ein US-Regierungsvertreter. „Er dürfte eines der Opfer der Proteste sein, wenn auch möglicherweise nicht sofort.“

Ruhani selbst macht seinen Vorgänger Mahmud Ahmadinedschad und die USA dafür verantwortlich, dass sein Land wirtschaftlich bisher nicht wieder auf die Beine kommt. Und in den kommenden Tagen droht dem Iran aus den USA weiteres Ungemach: Bis Mitte Januar muss US-Präsident Donald Trump erneut darüber entscheiden, ob die amerikanischen Sanktionen gegen iranische Erdöl-Exporte, wie im Atomabkommen vereinbart, ausgesetzt bleiben. Setzt er die Sanktionen wieder in Kraft, würde dies das Ende der international als historisch gerühmten Vereinbarung bedeuten, die Trump ein Dorn im Auge ist. Trumps Sprecherin Sarah Sanders sagte am Dienstag, der Präsident habe in der Frage der Sanktionen noch keine Entscheidung getroffen.

Sollten die USA das Abkommen kippen, würden sie sich damit gegen den erklärten Willen der übrigen Vertragspartner Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Russland und China stellen. Diese haben Trump beschworen, an der Vereinbarung festzuhalten. Auch die Internationale Atomenergie-Behörde (IAEA) bescheinigt dem Iran, alle Auflagen des Abkommens zu erfüllen. Mit einer Abkehr von der Vereinbarung würden die USA zudem riskieren, dass der Iran sein Atomprogramm wieder aufnimmt. Das Atomabkommen nach einem Ausstieg der USA weiter umzusetzen, wäre für die restlichen Staaten kaum möglich: Sobald die USA die Sanktionen wieder inkraft setzen, wäre eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Iran praktisch nicht mehr möglich.

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