Putschversuch in der Türkei Staatsstreich laut Ermittlern seit Jahrzehnten geplant

Bei den Ermittlungen zum gescheiterten Putschversuch in der Türkei fiel der Verdacht schnell auf Prediger Gülen. Dieser weist alle Schuld von sich. Die Geschichte offenbart jedoch aktive Versuche der Einflussnahme.

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Prediger Fethullah Gülen, der inzwischen im Exil im US-Staat Pennsylvania lebt, wies jede Verwicklung in den Umsturzversuch zurück. Quelle: AFP

Istanbul Glaubt man türkischen Ermittlern, war die Putschnacht im Juli der Höhepunkt eines von langer Hand geplanten Komplotts. Einen Vorgeschmack auf die dramatischen Ereignisse gab es demnach schon im Jahr 1986. Damals entließ das Militär Dutzende Kadetten, die im Verdacht standen, Getreue von Fethullah Gülen zu sein. Den jungen muslimischen Geistlichen sah die Führung als potenzielle Bedrohung des strikt säkularen Herrschaftssystems an.

30 Jahre später die Putschnacht vom 15. auf den 16. Juli, für die Präsident Recep Tayyip Erdogan Gülen verantwortlich macht. Der Prediger, der inzwischen im Exil im US-Staat Pennsylvania lebt, wies jede Verwicklung in den Umsturzversuch zurück. Doch die Ermittler brachten danach eine Reihe von Anschuldigungen gegen die Gülen-Bewegung vor, die zumindest Fragen über deren Rolle in den vergangenen Jahrzehnten aufwarfen.

In den 1970er Jahren, als das Land von einer vom Militär gestützten, säkularen Regierung geführt wurde, betrieb Gülens religiöse Bewegung vor allem Schulen und Studentenwohnheime und lockte damit viele junge Menschen aus der Mittelschicht an.

Gülen, dem damals eine Nähe zum islamischen Mystizismus nachgesagt wurde, vertrat eine Botschaft der Toleranz und Wohltätigkeit, die zugleich dem türkischen Patriotismus huldigte. Seine Gruppe namens Hizmet - türkisch für „Dienst“ - sammelte Spendengelder von Privatpersonen und Unternehmen ein. Ab Anfang der 1990er Jahre war die Gülen-Bewegung mit ihrem Bildungsnetzwerk auch in anderen Ländern vertreten.

Die mildtätige Botschaft schützte die Gülen-Anhänger zunächst vor einer Verfolgung der säkularen türkischen Führung. Die Machtbasis der Gruppe weitete sich bald aus, erstreckte sich neben Schulen auf Medien und sogar den Polizeiapparat. Doch mit deren wachsendem Einfluss nahm auch das Misstrauen der Regierung gegenüber der Bewegung zu.

Die Behörden warfen Leitern der Gülen-Gruppe vor, Anhängern bei Schulprüfungen beim Schummeln geholfen zu haben, um ihnen Jobs bei der Regierung zu verschaffen. Einmal auf dem gewünschten Posten, hätten sie sich „mit koordinierten Bemühungen geschützt und gefördert und Gegner ausgeschaltet“, sagt Hanefi Avci, ehemaliger Chef der Nationalpolizei, der einst gegen die Gülen-Bewegung ermittelte.

Die Behörden verweisen auf Gülens eigene Worte als Beleg für dessen mutmaßliche Ränkespiele. Aus den 1980ern gibt es Mitschnitte von Äußerungen des Geistlichen über das Vorgehen gegen Islamisten in Syrien und Ägypten. Einer Gruppe von Anhängern riet er damals zum Abwarten, bis ihre Zeit gekommen sei. „Ihr müsst euch innerhalb der Arterien des Systems bewegen, ohne dass jemand etwas von eurer Existenz mitbekommen, bis ihr alle Machtzentren erreicht habt“, beschwor er seine Jünger.

Später erklärte Gülen jedoch, seine damaligen Worte seien missverstanden worten. Ende der 1990er Jahre zog er in die USA, während in der Heimat ein Strafverfahren wegen seiner angeblichen Umsturzpläne gegen die Regierung lief. Dennoch erstarkte Gülens Bewegung weiter und trug letztlich zum Sturz der säkularen Führung bei.


„Mein Kommandeur, Sie übertreiben“

Bei den Wahlen 2002 unterstützten Gülens Anhänger die Kandidatur eines früheren Istanbuler Bürgermeisters, der selbst für einige Monate von den säkularen Behörden ins Gefängnis gesperrt worden war. Schließlich triumphierte dieser Kandidat mit Schützenhilfe der frommen Muslime im Land, die jahrzehntelang bei der Staatsführung nichts mitzureden hatten. Sein Name war Erdogan.

Der heutige Präsident beharrt darauf, dass er sich aus praktischen Erwägungen mit den Gülen-Anhängern abgegeben habe. Er habe jede Hilfe genutzt, die er bekommen konnte, um die Säkularen in die Knie zu zwingen. „Wir tolerierten sie, weil sie 'Allah' sagten“, sagte er unlängst über die Gülen-Bewegung.

Die Militärführung überzeugten Erdogans Beteuerungen hingegen nicht. Ilker Basbug, türkischer Militärchef von 2008 bis 2010, berichtete kürzlich in einem Interview des TV-Senders CNN Türk, er habe Erdogan vor der Gefahr durch Gülen-Unterstützer in der Armee gewarnt. Die Streitkräfte hatten Razzien gegen mutmaßliche Islamisten in ihren Reihen eingestellt. Doch habe Erdogan abgewiegelt und erklärt: „Mein Kommandeur, Sie übertreiben“, sagte Basbug.

Nach seiner Pensionierung kam Basbug selbst wegen das Verdachts auf Verschwörung zum Sturz der Regierung in Haft. Sein Schicksal teilten Hunderte weitere Personen, die mit der alten säkularen Ordnung in Verbindung gebracht und von mutmaßlichen Gülen-Sympathisanten ins Visier genommen worden waren.

Erdogan unterstützte zunächst die Ermittlungen zum Teil, distanzierte sich aber schließlich angesichts von Enthüllungen über manipulierte Beweise und andere Ungereimtheiten. Währenddessen ging auch die Zweckallianz zwischen dem heutigen Staatschef und dem Geistlichen in die Brüche.

Erdogan wurde es immer wichtiger, gegen Gülens „Parallelstaat“ in der Polizei und anderen Institutionen vorzugehen. Das Zerwürfnis verfestigte sich, als im Dezember 2013 mutmaßlich Gülen nahestehende Staatsanwälte groß angelegte Korruptionsermittlungen einleiteten und damit die Regierung in Erklärungsnot brachten.

Die Spannungen wuchsen noch einmal, als der Ministerpräsident sich 2014 zum Präsidenten wählen ließ. Den Schritt werteten Kritiker als Versuch Erdogans, noch mehr Macht an sich zu reißen. Schließlich begehrten am 15. Juli Teile des Militärs auf. Die Putschisten besetzten Flughäfen, Brücken und Militärstützpunkte, nahmen den Generalstabschef als Geisel und warfen der Regierung Untergrabung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vor.

Erdogan-Unterstützer gingen in Solidarität mit ihrem Präsidenten auf die Straße. Am Morgen des 16. Juli – vor genau einem Monat – war klar, dass der versuchte Umsturz gescheitert war. Am Ende waren 272 Menschen tot. Und der Verantwortliche war für Erdogan schnell gefunden: Gülen.

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