Reaktorunfall "Angst hat auch viele Vorteile"

Die Menschen im Norden haben mehr Angst als die im Süden, sagt der renommierte Psychiater Borwin Bandelow. Er erklärt, warum die Deutschen nach dem japanischen Reaktorunglück Jodtabletten kauften und die Japaner vergleichsweise besonnen reagieren.

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Professor Borwin Bandelow

Wirtschaftswoche: Professor Bandelow, wenige Tage nach der Explosion in Fukushima wurden in Deutschland Geigerzähler und Jodtabletten knapp. Ist das nicht verrückt? 

Bandelow: Nein, solche Reaktionen wird es immer geben. Viele Menschen empfinden subjektiv Angst, obwohl es dafürobjektiv keinen Grund gibt – und dann setzt schon mal die Vernunft aus.

Umfragen zufolge befürchten immerhin 70 Prozent der Deutschen eine vergleichbare Reaktorkatastrophe wie in Japan.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese übergroße Sorge schnell wieder vergehen wird. Vor allem, weil wir bislang keine unmittelbare Bedrohung erleben.

Dennoch gibt es im Ausland den Begriff der „German Angst“.  Sind die Deutschen ein besonders ängstliches Volk? 

Das glaube ich nicht. Ich würde sagen: Je nördlicher ein Land liegt, desto ängstlicher sind dessen Einwohner.

Wieso? 

Das ist vielleicht evolutionär bedingt. Im Laufe der Völkerwanderung gab es eine Bewegung vom Süden in den kalten Norden. Das konnte man nur überleben, wenn man vorausschauend dachte – also Nahrungsmittel hortete und die Versorgung für die kalten Monate sicherte. Bedingung für diese Planung war schlicht die Angst vor dem Winter. Wer allzu sorgenfrei in die Zukunft blickte, starb, während die Ängstlichen überlebten.

Also ist Angst per se nicht negativ?

Überhaupt nicht, sie hat auch viele Vorteile. Sie führt etwa zu Vorsicht. Wer Angst vor einem Autounfall hat, wird aufmerksamer und langsamer fahren.

Bloß darf einen diese Angst nicht lähmen...

Richtig, entscheidend ist das richtige Maß. Außerdem hat Angst noch einen weiteren positiven Aspekt: Sie kann Kreativität wecken. Die Angst vor Atomenergie könnte dazu führen, dass wir neue Energiequellen erschließen.

Und wie lässt sich Angst positiv nutzen?

Man darf ihr schlicht nie aus dem Wege gehen. Stattdessen sollte man sich mit Fantasie überlegen, wie man mit ihr umzugehen lernt.

Bislang sind in Japan mehr als 9000 -Menschen ums Leben gekommen, die Lage in Fukushima ist weiterhin -bedrohlich – und dennoch reagieren die Menschen vor Ort relativ besonnen. Sind die Japaner -weniger ängstlich?

Das sicher nicht, aber man muss bei diesem Thema auch genau differenzieren. In unserem Gehirn existieren verschiedene Formen von Angst. Einerseits gibt es das primitive Angstsystem, das nur bei unmittelbaren Gefahren aktiviert wird – etwa wenn es ums Verhungern oder Erfrieren geht. Für manche Japaner sind das zentrale Ängste. Die schleichende Gefahr aber, die Atomstrahlung, nimmt dieses Angstsystem gar nicht zur Kenntnis.

Weil man diese Strahlung weder sehen noch riechen oder fühlen kann?

Genau, die Strahlung aktiviert nur unser intelligenteres Angstsystem. Dieses verarbeitet auch Wissen über Strahlenschäden und denkt langfristig – jedoch löst es bei den Menschen keine Panik aus, sondern nur tiefe Sorgen.

Besteht in Japan die Gefahr psychischer Langzeitschäden?

Bandelow: Flächendeckende seelische Betreuung ist Unsinn. Nur etwa 15 Prozent der schwer Betroffenen erleiden posttraumatische Belastungsstörungen. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass eine sofortige psychologische Betreuung die emotionale Belastung sogar verstärken kann. Einfach deshalb, weil man dadurch in den natürlichen Mechanismus der Bewältigung eingreift.

Würden die Deutschen auf solch eine Katastrophe wie in Japan anders reagieren?

Bandelow: Das kann ich mir nicht vorstellen. Auch hierzulande gibt es durch den Zweiten Weltkrieg reichlich Erfahrungen mit Schicksalsschlägen. Daher glaube ich, dass auch die Deutschen in so einem Fall ausreichend Resilienz, also psychische Widerstandskraft, zeigen würden.

Wird eine Gesellschaft nur durch solche Katastrophen resilienter?

Bandelow: Es sind weniger die Erfahrungen früherer Generationen, die Menschen resilient machen – sondern eher die Tatsache, dass manche schon als Überlebenskünstler geboren werden. 

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