Die ungarische Hauptstadt ist vor dem Referendum am Sonntag in den Nationalfarben Rot, Weiß und Grün getaucht. Mit der Trikolore auf Plakatwänden und Straßenbahnen wirbt die Regierung unter ihrem rechtspopulistischen Premier Viktor Orbán um die Zustimmung zu ihrem Plebiszit über die in der EU beschlossene Verteilungsquote für Flüchtlinge. Sie warnt, dass mit den Migranten auch „Terroristen“ und „Kriminelle“ in Land kommen würden.
Nur knapp 1300 Migranten soll das kleine EU-Land nach dem EU-Schlüssel aufnehmen. Doch dazu ist Orbán keinesfalls bereit. Die Wähler sollen ihm nun den Rücken im Streit mit der EU-Kommission und Bundeskanzlerin Angela Merkel stärken. Der seit 2010 regierende Führer der Fidesz-Partei will mit dem Votum gegen Migration noch härter in Europa auftreten.
Mit dem Referendum fährt Orban aber auch ein hohes politisches Risiko. Damit das Votum gültig ist, müssen mindestens 50 Prozent der 8,27 Millionen Wahlberechtigten eine gültige Stimme abgeben. Die meisten Oppositionsparteien und eine Reihe von Bürgerrechtsorganisationen haben die Wähler die Bürger aufgefordert, nicht zur Wahl zu gehen oder eine ungültige Stimme abzugeben.
Sollte Orbán das Quorum nicht erreichen, wäre das die größte Blamage seit der Übernahme der Macht in Ungarn vor sechs Jahren. Nach letzten Meinungsumfragen schwankt die geplanten Wahlbeteiligung um die notwendigen 50 Prozent. Es könnte daher für die rechtspopulistische Regierungspartei Fidesz knapp werden, die im Budapester Parlament eine knappe Zwei-Drittel-Mehrheit besitzt. Deshalb zieht Orbán und seine Parteigänger alle Register, um die Bürger an die Wahlurnen zu bringen.
Das ist Viktor Orbán
Viktor Orbán, 1963 geboren, wuchs in bescheidenen Verhältnissen in einem Dorf bei Szekesfehervar - 70 Kilometer südwestlich von Budapest - auf. Im ländlichen Umfeld seiner Kindheit galt er als schwer erziehbar.
Als Jurastudent in der Hauptstadt Budapest rebellierte Orbán mit Gleichgesinnten gegen den geistlosen Obrigkeitsstaat im späten Kommunismus. Der Fidesz, den er mitbegründete, war die erste unabhängige Jugendorganisation dieser Zeit.
1998 übernahm Orbán erstmals die Regierungsgeschäfte. Mit 35 Jahren war er damals der jüngste Ministerpräsident der ungarischen Geschichte.
Als Orbán 2002 überraschend die Wahl und damit die Regierungsmacht verlor, wollte er sich damit nicht abfinden. Er ließ seine Anhänger aufmarschieren und reklamierte auf "Wahlbetrug". Die regierende Linke setzte der Oppositionsführer immer wieder mit Straßenkundgebungen und Volksabstimmungen unter Druck.
Die Wahlen im Frühjahr 2010 brachten Orbán die langersehnte Rückkehr an die Macht, noch dazu mit der verfassungsrelevanten Zweidrittelmehrheit für seine Fidesz-Fraktion.
Nach seiner Rückkehr sprach Orbán umgehend von einer "Revolution der Wahlkabinen" und von der Ankunft eines neuen "Systems der nationalen Zusammenarbeit".
Das bedeutete in der Praxis die Aushöhlung demokratischer Institutionen. Kritiker zufolge ordnet Orbán seine ganze Politik seinen Machtbedürfnissen unter. So würden auch die kürzlich verabschiedeten Verfassungsänderungen vor allem dazu dienen, dass Orbán noch mehr schalten und walten kann, wie er will.
Für die nächsten 15 bis 20 Jahre, so erklärte Orbán vor Partei-Intellektuellen, müsse "ein einziges politisches Kraftfeld die Geschicke der Nation bestimmen".
Ungarn sei von der EU mit der verpflichtenden Verteilquote für die Flüchtlinge über den Tisch gezogen worden, gab Orbán nach dem Flüchtlingsgipfel in Wien am vergangenen Wochenende zu Protokoll. „Wir wollen mit dem Referendum zeigen, dass wir uns als kleines Land nicht über den Tisch ziehen lassen“, sagte Orban in Richtung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die auf die Einhaltung der Flüchtlingsquoten pocht.
„Wir wollen das Recht haben zu entscheiden, mit wem wir zusammenleben wollen und nicht Brüssel“, sagte der Intimfeind Merkels. Die Frage des Plebiszits ist freilich suggestiv gestellt. Auf den Wahlzetteln heißt es: „Wollen Sie, dass die Europäische Union auch ohne Zustimmung des Parlaments die verpflichtende Ansiedlung von nicht ungarischen Staatsbürgern in Ungarn vorschreiben kann?“ Mit einer klaren Mehrheit gegen Quoten wird in Budapest daher fest gerechnet.
Der Orbán-Vertraute Zoltán Kovács gibt in Budapest unterdessen betont gelassen. Der ungarische Regierungssprecher sitzt in einem Palast neben dem fein herausgeputzten Parlament. Ein imposantes Treppenhaus mit rotem Teppich führt hoch zu seinem Salon, von dem aus der promovierte Jurist auf die ungarischen Medien einwirkt.
Kovács, mit sportlich offenem Hemd und lässigem Sakko, zweifelt nicht aus für die Regierung positivem Ausgang des Plebiszits. Es werde „eine klare Botschaft an Europa senden. Genau wie die Abstimmung über den Brexit. Der ist auch nicht rechtsverbindlich und hat dennoch Folgen.“ Dabei lächelt Kovács überlegen. Eine klare politische Botschaft aus Budapest könne von den europäischen Institutionen nicht übergangen werden. „Ein Referendum ist der beste demokratische Weg, um die Meinung der Bürger zu erfahren“, sagt Kovacs.
Furcht und Hass vor Fremden
Der europapolitische Zweck des Referendum ist klar: „Orbán wird mit den Rückenwind der Unterstützung durch das Referendum darauf drängen, die europäischen Verträge mit dem Ziel zu verändern, dass für Fragen der Migration die Länder und nicht die EU verantwortlich sein soll“, sagt ein politischer Analyst in Budapest. Im vergangenen Jahr hatte die EU die Verteilung von rund 160.000 Flüchtlingen in Griechenland und Italien beschlossen.
Ungarn lehnt die Aufnahme von Flüchtlingen ab. „Wir brauchen keine Menschen aus sicheren Ländern“, sagte Kovács in Anspielung auf die Flüchtlingssituation in Serbien, Mazedonien, Griechenland und den Rückstau von Tausenden überwiegend islamischer Flüchtlinge auf der geschlossenen Balkan-Route.
Orbán, der sich vom CSU-Ehrenvorsitzenden und früheren bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber gerne Ratschläge holt, stößt mit seinem Referendum im eigenen Land auch auf scharfe Kritik. „Migranten werden von der Regierung als Bedrohung der Sicherheit dargestellt. Die Botschaften der Plakate sind manipulativ“, sagt Marta Pardavi, Co-Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Helsinki-Komitee in Budapest dem Handelsblatt. „Die Regierung Orbán hat die Bürger von Furcht vor Fremden zum Hass gegen Fremde verführt“, sagt die Juristin.
Ungarns Schwächen
Einzelne Sektoren wie Banken oder Energie haben in Ungarn mit extremen steuerlichen Belastungen zu kämpfen.
Vor allem in technischen Berufen herrscht in Ungarn Fachkräftemangel.
Trotz des günstigen Investitionsumfelds fiel die Investitionsquote Ungarns auf nur noch 17 Prozent.
Durch das schwindende Vertrauen Ungarns im Ausland sinkt der FDI-Zufluss (Foreign Direct Investment, ausländische Direktinvestitionen)
Durch die Zuspitzung der Kreditklemme im Land drohen Insolvenzen und Zahlungsausfälle.
Der Ausgang des Referendums am Sonntag im Sinne Orbáns gilt aber als sicher, wenn nur das notwendige Quorum erreicht wird. Selbst Orbán-Kritiker räumen ein, dass rund zwei Drittel der Bürger die harte Grenzpolitik des Landes unterstützen. Ungarn gibt nach Regierungsangaben rund eine halbe Milliarde Euro für die verstärkte Sicherung seiner Grenzen aus.
Das Referendum am Sonntag hat keinen rechtsverbindlichen Charakter. Sollte Ungarn seinen Verpflichtungen aber nicht nachkommen, drohte der für Migration zuständige EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos indirekt bereits mit einem Vertragsverletzungsverfahren durch Brüssel. Er kann dabei auf die Unterstützung der EU-Länder Dänemark, Schweden und Finnland setzen, die kürzlich die Rücknahme von Flüchtlingen durch Ungarn verlangt hatten. Der CDU-Politiker Michael Stübgen, Vorsitzender der deutsch-ungarischen Parlamentariergruppe im Bundestag, hält es hingegen für falsch, Ungarn und andere osteuropäischen Länder zur Aufnahme von Flüchtlingen zu zwingen.
Die umstrittenen Verfassungsänderungen
Die Höchstrichter dürfen Verfassungsänderungen und -zusätze künftig nur mehr noch verfahrensrechtlich, nicht mehr inhaltlich prüfen. Darüber hinaus ist es ihnen verwehrt, sich auf die eigene Spruchpraxis aus der Zeit vor Inkrafttreten der derzeitigen Verfassung im Januar 2012 zu berufen.
Die vom Ministerpräsidenten ernannte Leiterin des Nationalen Justizamtes bekommt eine Vollmacht, um in bestimmten Fällen die Gerichte zuzuweisen.
Es soll die Möglichkeit geben, dass Wahlwerbung in privaten Medien verboten werden kann.
Wenn Obdachlose auf der Straße übernachten, können sie dafür ins Gefängnis kommen.
Die Regierungsmehrheit im Parlament erhält die Möglichkeit willkürlich über die Zuerkennung des Kirchenstatus zu entscheiden.
Der bisher von der Verfassung gewährte Schutz der Familie soll auf Mann und Frau, die miteinander verheiratet sind und Kinder großziehen, eingeengt werden.
Die Finanzautonomie der Universitäten wird durch von der Regierung eingesetzte Wirtschaftsdirektoren („Kanzler“) eingeengt.
Es gibt per Gesetz die Möglichkeit, Universitätsabgänger, die ohne Studiengebühren studiert haben, auf das Bleiben in Ungarn zu verpflichten.
Trotz des Referendums will Orbán jedoch an einer Mitgliedschaft Ungarns in der EU unbedingt festhalten. Daran lässt der Ministerpräsident keinen Zweifel. „Wir sind nicht beigetreten, um auszutreten“, sagte der ungarische Premier zuletzt. „Wir glauben an die EU.“ Ungarn gehört der EU seit 2004 an und hat seitdem einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Das Land profitiert stark von der deutschen Industrie, die mit Konzernen wie Audi, Daimler, Siemens und Bosch zu den größten Arbeitgebern in Ungarn zählen.
Statt die Flüchtlinge innerhalb der EU zu verteidigen, will Orbán die Migranten nach Nordafrika in großen Lagern schaffen. Der Ministerpräsident schlug die Einrichtung eines Flüchtlingslagers im Bürgerkriegsland Libyen für Millionen von Flüchtlingen vor. „Uns muss ein Küstenabschnitt zur Verfügung gestellt werden“, sagte der 53-Jährige. „Migration ist kein Menschenrecht.“ Orban fordert dafür ein Ende des Waffenembargos für die Regierung in der libyschen Hauptstadt Tripolis und einen verstärkten Kampf gegen den IS, um das nordafrikanische Land zu befrieden und somit die Voraussetzung für derartige Flüchtlingscamps zu schaffen.